Gottfried Keller: Kleider machen Leute (1874)

Wendung hin zum programmatischen Realismus

Kleider machen Leute ist eine äußerst spannende Lektüre und wir empfehlen Ihnen daher unbedingt, sich die Novelle ganz durchzulesen. Eine einschlägige kritische Ausgabe davon finden Sie sicherlich in Ihrer Hochschulbibliothek, den Volltext finden Sie auch hier, wobei es sich bei Projekt Gutenberg nicht um eine zitierfähige Textausgabe handelt. 

Der Wendepunkt der Novelle findet spätestens mit Nettchens Ausruf: „Keine Romane mehr!“ (zitiert nach: Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 46) statt. Explizit wird hier Realismus gefordert. Mit dem Satz: „Komm fremder Mensch! [...] ich werde mit dir sprechen und dich fortschaffen!“ (ebd., 40) bricht Nettchen mit den vorher implizierten kulturellen Codes. Schlussendlich nimmt die Novelle ein Happy End, jedoch ganz anders als möglicherweise zu Beginn gedacht. Die finale Problemlösung geschieht nicht durch einen deus ex machina, es taucht keine gute Fee auf, die alles zum Guten hin wendet. Nein, es findet sich eine zeitgemäße, nämlich ökonomische Lösung: „Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen!“ (ebd., 40).

Die realistische Schlusslösung ist nicht nur programmatisch realistisch sondern entspricht auch einem realistischen Erzählverfahren. Die Novelle ist nicht fantastisch, nicht märchenhaft, sondern ganz klar in der bürgerlichen Gesellschaft zu verorten. Wenzel Strapinski vollzieht im Zeitraffer den Schritt vom Handwerker zum kapitalistischen Unternehmer. Das bösartig komische Masken- und Fastnachtsspiel der Seldwyler „demaskiert nicht allein den falschen Grafen, sondern auch das Schein- und Maskenhafte in der bürgerlichen Gesellschaft, die dem einen die Chancen zuwirft, die sie dem anderen versagt.“ (Kaiser 1981, 348)

Auch wenn in der Novelle deutlich ein Frame-Bruch stattfindet, so entspricht dieser trotzdem keinem nicht-realistischem Erzählverfahren. Der Text verfährt weiterhin dominant metonymisch, es findet nur ein Wechsel zwischen bekannten kulturellen Codes statt. Die hervorgerufenen stereotypen Texterwartungen werden nicht erfüllt, dafür werden andere, modernere Frames erfüllt. Die Zeichen der Textebene kommen nicht in den Blick, das Textverstehen ist an jeder Stelle einfach. 

Sehen wir uns Kleider machen Leute unter dem Gesichtspunkt des hermeneutischen Zirkels an, so ist die Zirkelbewegung des Textverstehens zumindest an der Stelle: „Keine Romane mehr!“ kurzzeitig blockiert. Wir müssen unser Vorwissen anpassen: Es handelt sich nicht um ein Märchen oder einen trivialromantischen Text, sondern um einen programmatisch Realistischen. Doch nach Anpassung der kulturellen Codes funktioniert das Textverstehen wieder problemlos, das Textverfahren ist klar realistisch.