Poetischer Realismus (Buch)

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Kurs: (VHB) DEMO: Realistisches Erzählen in Geschichte und Gegenwart
Buch: Poetischer Realismus (Buch)
Gedruckt von: Gast
Datum: Mittwoch, 8. Mai 2024, 05:13

Beschreibung

Hier finden Sie die Lektion Poetischer Realismus.

Zur Einführung

Der Poetische Realismus, häufig auch nur als 'Realismus' oder 'Bürgerlicher Realismus' bezeichnet, ist Thema dieser Lektion.

Im Folgenden lernen Sie den Poetischen Realismus als Epoche mit seinen Merkmalen, wichtigen Vertretern und seiner Programmatik kennen. Ein Schwerpunkt liegt auch hier auf realistischen Erzählverfahren, die wir uns anhand von drei Beispieltexten genauer ansehen werden.

Wie bereits mehrfach betont, sind in diesem Kurs die Absicht Ihnen realistische Erzählverfahren und zugleich literaturgeschichtliches Wissen zu vermitteln eng bzw. untrennbar verbunden. Damit es für Sie nicht langweilig wird, variiert dabei die Schwerpunktsetzung in den verschiedenen Lektionen. In dieser Lektion zum Poetischen Realismus dominiert unser Leitthema Realistisches Erzählen. Durch die verstärkte Arbeit konkret am Text möchten wie das in der Einführung erläuterte theoretische Wissen hier an drei Beispieltexten des Poetischen Realismus vorführen. Das bedeutet, dass wir in dieser Lektion nicht so vertieft wie in anderen Lektionen (z. B. zur Goethezeit) auf die literaturgeschichtlichen Grundlagen der Zeit eingehen können, denn auch in dieser Lektion beträgt die Nettobearbeitungszeit ca. 90 Minuten. Da in dieser Zeit natürlich nicht die gesamte Epoche lückenlos behandelt werden kann, finden Sie hier einzelne Schlaglichter und Schwerpunkte, die Sie gerne vertiefen dürfen und sollen.

Zur Einführung lesen Sie bitte hier das einleitende Kapitel aus Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus [aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen Scans nur im geschlossenen Kurs zur Verfügung stellen]. Claudia Stockinger bietet einen sehr schönen ersten Überblick über die Epoche. Während sich Stockinger hier schwerpunktmäßig auf Humor im Poetischen Realismus bezieht, werden wir in dieser Lektion andere Schwerpunktthemen behandeln. Dazu später mehr, zunächst wollen wir die Epoche mit ihren Merkmalen untersuchen, sie zeitlich eingrenzen und zeitlich kontextualisieren.

Epochenbegriff und zeitliche Eingrenzung

Politisch begründet wird in der Regel das Revolutionsjahr 1848 als Epochenbeginn angesetzt. Aufgrund des poetologischen Selbstverständnisses kann aber auch schon die Zeit „um 1830“ als Epochenbeginn angesetzt werden, da bereits ab diesem Zeitpunkt sinnvollerweise die Rede von realistischer Literatur sein kann.

Verschiedene Begrifflichkeiten zur Benennung der Epoche wurden diskutiert, v. a. um die Zeit bis 1850, wie beispielsweise Frührealismus, Spätromantik, Biedermeierzeit oder Vormärz. Zwischen 1850 und 1870 setzte sich dann der Poetische Realismus als vorherrschendes Paradigma in der Literatur durch, daher wird diese Zeit auch als Hoch- oder Blütezeit des Realismus bezeichnet.

Mit dem Ende des deutsch-französischen Kriegs und der Reichsgründung 1871 setzt die Spätphase des Poetischen Realismus ein

Wann der Poetische Realismus endet, wird in der Forschung nach wie vor diskutiert; schwierig ist eine genaue Enddatierung auch deshalb, weil im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Strömungen, wie etwa der Historismus oder der Naturalismus, schon auftauchen, diese aber teilweise noch parallel zum Poetischen Realismus verlaufen. Ab den 1880er Jahren setzt sich in der deutschen Literatur ein Stilpluralismus durch, den Sie in der Lektion Literatur um 1900 genauer kennen lernen. Grob datiert endet der Poetische Realismus um 1890, allerdings ist das Datum nicht als endgültiges Ende des Poetischen Realismus zu verstehen, denn es wurden auch danach noch Texte veröffentlicht, die dem Poetischen Realismus zugeordnet werden können. 

Somit lässt sich der Zeitraum 1830–1890 als Epoche des Poetischen Realismus bestimmen.


Bürgerlicher Realismus

Sicherlich ist Ihnen auch der Begriff des ‚Bürgerlichen Realismus‘ bekannt, dieser kann synonym zum Poetischen Realismus verwendet werden. 

Der Begriff wurde v. a. dadurch geprägt, dass sich die Literatur dieser Epoche zur Wirklichkeit hinwendet, wobei der bürgerliche Mensch zum zentralen Thema der Literatur wurde. Während z. B. in der Goethezeit in der Regel noch Adlige die Hauptpersonen in der Literatur waren (Ausnahme: Das bürgerliche Trauerspiel), so sind die Protagonisten im Poetischen bzw. Bürgerlichen Realismus bürgerliche Menschen, deren Lebensverhältnisse zum Thema des Realismus werden. 

Nicht nur die Figuren, auch die Autoren des Poetischen Realismus sind Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Zusätzlich ist auch die Zielgruppe das Bürgertum; im Poetischen oder Bürgerlichen Realismus schreibt folglich ein bürgerlicher Autor Texte über bürgerliche Menschen die vom Bürgertum gelesen werden. 



Populäre Themen und Gattungen

Zu den populären Themen des Poetischen Realismus zählt der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Geläufig ist auch die Hinwendung zur lokalen Heimat, die Handlung der Werke findet häufig in kleinen Orten oder Dörfern im Lande statt.

Die Epik dominiert im Poetischen Realismus, v. a. Roman, Novelle und Dorfgeschichte sind beliebte Erzählgattungen und in der Regel handelt es sich um leicht zugängliche Prosa. Zu den populärsten Schriftstellern des Poetischen Realismus zählen Marie von Ebner-Eschenbach, Theodor Fontane, Gustav Freytag, Paul Heyse, Gottfried Keller, Theodor Storm, Wilhelm Raabe und Adalbert Stifter. In der Lyrik dominieren Dinggedichte und Balladen, das Drama rückt im Poetischen Realismus in den Hintergrund, wobei Friedrich Hebbel als einer der wenigen wichtigen Dramatiker der Zeit gilt.

Ein Kernpunkt des Poetischen Realismus ist, dass er die bloße Nachahmung der Welt ablehnt – wichtig ist das ‚poetische‘ am Realismus, welches als Prinzip der ‚Verklärung‘ oder zeitgenössisch auch als ‚Läuterung‘ oder ‚Idealisierung‘ bezeichnet wurde. 

Um auf diesen wichtigen Zusatz zum Realismus aufmerksam zu machen, verwenden wir in diesem Kurs den Epochennamen ‚Poetischer Realismus‘. Wie diese ‚Verklärung‘, das ‚Poetische‘, aussehen kann, werden wir an den späteren Textbeispielen veranschaulichen. 


Fontane als wichtiger Vertreter und Programmatiker des Poetischen Realismus

Als ein frühes Manifest des Poetischen Realismus gilt Theodor Fontanes Aufsatz „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“ (1853), welchen Sie hier finden [aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen Scans nur im geschlossenen Kurs zur Verfügung stellen].

Nachdem Sie den Aufsatz gelesen haben, sehen Sie sich bitte folgendes kurze Video zu Theodor Fontane an. In diesem wird er als bedeutsamer Schriftsteller und Programmatiker des Poetischen Realismus vorgestellt.


Texte

Im Folgenden werden wir uns mit 3 ausgewählten Texten des Poetischen Realismus vertieft beschäftigen und anhand dieser realistische Erzählverfahren der Epoche erarbeiten:

Theodor Fontane: Effi Briest (1894)

Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888)

Gottfried Keller: Kleider machen Leute (1874)

Da diese Lektion eine Bearbeitungszeit von ca. 90 Minuten haben soll, können wir Ihnen jeweils nur kurze Textabschnitte vorstellen. Bitte verstehen Sie diese als Einladung, sich intensiver mit den Texten auseinanderzusetzen und leihen Sie sich eine kritische Textausgabe in Ihrer Hochschulbibliothek aus. 

Anhand der Textbeispiele werden wir wichtige Konzepte des Poetischen Realismus und realistischer Erzählverfahren dieser Epoche beleuchten.


Theodor Fontane: Effi Briest (1894)

Ein wichtiges Werk Fontanes, das wird uns im Folgenden genauer ansehen wollen, ist sein Gesellschaftsroman Effi Briest

Eine witzige, kurze, aber trotzdem recht präzise Zusammenfassung des Romaninhalts finden Sie in diesem Youtube-Video von „Sommers Weltliteratur to go“:

Selbstverständlich kann Ihnen das Video nicht die Lektüre des Romans ersetzen, fasst die Handlung aber ganz gut zusammen.

Besonders spannend ist der Kommentar zum Youtube-Video von Martin Jansen, der schreibt: „Fassen wir zusammen: In dem Roman geht es um eine Frau, die sich langweilt. Fontane gelingt es, die Langeweile realistisch darzustellen.“ In Hinblick auf unser Kursthema ist dies eine wunderbare Zusammenfassung – nicht nur von Effi Briest, sondern mehrerer Werke des Poetischen Realismus!

Im Youtube-Video wurde bereits der spukende Chinese angesprochen. Mit diesem wollen wir uns in Hinblick auf realistische Erzählverfahren im Poetischen Realismus im Folgenden näher beschäftigen.

Bitte lesen Sie folgenden Textausschnitt, das 9. und 10. Kapitel des Romans Effi Briest [aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen Scans nur im geschlossenen Kurs zur Verfügung stellen].

Um gleich zu Beginn wieder das beliebte Argument zu entkräften: Fantastik und Realismus, wie passt das denn zusammen? Bitte erinnern Sie sich an die Abgrenzung zwischen Realismus und Realistik, die wir in der Einführungslektion zu diesem Kurs hervorgehoben haben. Selbstverständlich kann etwas Übernatürliches realistisch sein – es muss dann nur besonders realistisch erzählt werden.

Sehen Sie sich folgendes Zitat aus dem Textabschnitt, den Sie eben gelesen haben, genauer an:

Ich schlief ganz fest, und mit einem Male fuhr ich auf und schrie ... vielleicht, daß es ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie, mein Papa hat es auch und ängstigt uns damit, und nur die Mama sagt immer, er solle sich nicht so gehenlassen; aber das ist leicht gesagt ... Ich fuhr also auf aus dem Schlaf und schrie, und als ich mich umsah, so gut es eben ging in dem Dunkel, da strich was an meinem Bett vorbei, gerade da, wo Sie jetzt stehen, Johanna, und dann war es weg. (Zitiert nach Fontane, Theodor: Effi Briest [1894]. In: Ders.: Romane. Irrungen Wirrungen, Frau Jenny Treibel, Effi Briest, Der Stechlin. Stuttgart 1975)

Selbstverständlich wird hier von etwas Übernatürlichem erzählt, unrealistisch ist es aber keinesfalls. Es bleibt auch fragwürdig, ob überhaupt etwas Übernatürliches stattgefunden hat, oder ob Effi einfach nur schlecht geträumt hat. Insgesamt gibt es viel direkte Rede im Roman, auch hier erzählt Effi selbst von ihrem Erleben.



Metaphern und Metonymie im Poetischen Realismus

Der Chinesenspuk ist ohne Frage ein bedeutungstragendes Element in Effi Briest. In der Einführungslektion lernten Sie die wichtige Unterscheidung zwischen Metapher und Metonymie kennen: Realistische Erzählverfahren sind immer metonymisch, während Metaphern in der Regel nicht realistisch sind.


Metaphern sind nicht realistisch, und Realismus ist nicht metaphorisch, und zwar per definitionem. Als Realismus definieren wir ja gerade das Fortschreiten des Textes innerhalb kulturell vorgegebener frames, nach Maßgabe der kulturellen Codes, während die Metapher als Übertragungsfigur und Sprungtrope immer einen zumindest kurzzeitigen Framebruch […] impliziert. (Baßler 2014, 219) 

Das bedeutet jedoch nicht, dass es in Texten des Poetischen Realismus keine Metaphern gibt! Der Poetische Realismus ist geprägt durch diese besondere Verflechtung metonymischer und metaphorischer Textverfahren, Moritz Baßler beschreibt sie als 

Kippfigur zwischen Metaphorisierung und Metonymisierung, die das charakteristische Verfahrensmodell des Poetischen Realismus ausmacht […]. Die metaphorische Achse ist im Poetischen Realismus demnach gleichzusetzen mit der Achse der poetischen Verklärung. Sie bleibt das Ziel jedes poetisch-realistischen Textes. (ebd., 225)

In der Literatur des Poetischen Realismus wird häufig, wie auch im Beispiel Effi Briest, die metaphorische Ebene höher angesiedelt, daher hat sie keinen direkten Einfluss auf das (realistische) Erzählverfahren. Es ist die programmatisch notwendige Verklärung, die auf einer höheren Textebene wirkt, aber nicht das realistische Erzählverfahren stört. Ganz im Gegenteil: Gerade Effis eigene Unsicherheit, ob dort oben tatsächlich ein Chinese spukt, wirkt sich äußerst realistisch aus. 

Der Chinese per se ist an keiner Stelle des Textes ein Handlungselement, er wirkt stets nur in kontextualen Zusammenhängen bedeutungskonstituierend. Als fantastisches Element versinnbildlicht er die gesellschaftliche Unordnung; zwischen Effi und dem Chinesen gibt es mehrere Parallelen, die sie als gesellschaftliche Außenseiterin kennzeichnen. Diese Bedeutungsmöglichkeiten liegen jedoch auf einer höheren, metaphorischen Ebene und stören nicht das realistische Erzählverfahren.


Fantastik im Poetischen Realismus

Fantastische Elemente sind kein Widerspruch zum Poetischen Realismus – solange das Übernatürliche realistisch vermittelt wird. 

Zwar sind fantastische Phänomene in der Literatur des Poetischen Realismus im Vergleich zu beispielsweise der Literatur der Romantik stark marginalisiert und spielen eher eine untergeordnete Rolle, doch gerade in Hinblick auf Realistisches Erzählen in dieser Epoche sind sie ein spannender Untersuchungsgegenstand. Vor allem mit Augenmerk auf den durch die programmatischen Realisten angestrebten Epochenbruch mit der Romantik, überrascht die Fantastik im Poetischen Realismus.

Ein wichtiger Punkt ist, dass fantastische Motive zwar zentrale Motive innerhalb realistischer Texte sein können, sie allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf die Kausalität der Handlung haben, wie es in romantischen Texten häufig der Fall ist. Insgesamt sind Texte des Poetischen Realismus weniger auf die fantastischen Elemente hin zentriert, sie entfalten ihre Bedeutung stets erst in Zusammenhang mit natürlichen Themen und Motiven. 

In Hinblick auf realistische Erzählverfahren des Poetischen Realismus, welche programmatisch immer realistisch aber zugleich auch verklärend sein mussten, ist besonders bedeutsam, dass Texte des Poetischen Realismus, welche fantastische Elemente enthalten, immer auch Handlungsstränge enthalten, welche „restlos natürlich erklärbar sind“ (Reichelt 2001, 10):

Je ärmer die realistische Literatur an fantastischer Literatur als Gattung, desto reicher ist sie an bedeutungskonstitutiven Kontexten, die etwas über die Funktion dieses Fantastischen, seine Zugehörigkeit zu den Gegenständen ‚mimetischer‘ Darstellung aussagen. (ebd., 29)

Die Verknüpfung von Fantastik und Realistischem Erzählen kann im Poetischen Realismus auf zwei Ebenen verortet werden: Zum Einen können fantastische Elemente zu der realistischen Erzählweise beitragen, indem sie die programmatisch wichtige Verklärung zum Realismus beisteuern. Diese Möglichkeit findet sich in Effi Briest mit dem Chinesenspuk. Generell bieten übernatürliche und fantastische Elemente in Texten des Poetischen Realismus eine große Bedeutungsoffenheit, das spiegelt sich auch in der Forschung wider. Zum Anderen können fantastische Erzählelemente so funktionalisiert werden, dass sie tatsächlich das realistische Erzählen bestätigen, wie es in Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter der Fall ist.


Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888)

Hier finden Sie die ersten Seiten von Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter (1888) [aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen Scans nur im geschlossenen Kurs zur Verfügung stellen]. Bitte lesen Sie sich diese durch und behalten Sie dabei folgende Fragen im Hinterkopf: Wie funktioniert das Realistische Erzählen bei Storm? Inwiefern trägt der Schimmelreiter-Spuk zu einer realistischen Erzählweise bei, oder bricht er gar mit ihr? Wie lässt sich das Fantastische mit dem Realistischen verknüpfen?

Ähnlich wie in Effi Briest gibt es auch im Schimmelreiter ein Spuk-Motiv, nämlich das des Deichspuks: Die geisterhafte Erscheinung des Schimmelreiters warnt vor einem Deichbruch.


Verflechtung verschiedener Erzählebenen

Wie Sie anhand der ersten Seiten der Novelle erkennen konnten, gibt es in Der Schimmelreiter nicht nur einen Erzählstrang, sondern mehrere. Es handelt sich um eine Meta-Erzählung, in welcher verschiedene Erzählebenen, Binnen- und Rahmenhandlungen, verschachtelt sind. Diese besondere realistische Erzählweise wird bereits im ersten Absatz der Novelle sehr deutlich:

Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den ‚Leipziger‘ oder von ‚Pappes Hamburger Lesefrüchten‘. Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe. (Zitiert nach Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990, 5)

Der Ich-Erzähler erzählt eine Geschichte, die ihm im wahren Leben passiert ist, nämlich vor „reichlich einem halben Jahrhundert“ und im „Hause seiner Urgroßmutter der alten Frau Senator Fedderson.“ Wir erfahren also schon recht viel im allerersten Satz, die Geschichte ist klar verortet. Beim Lesen dieses ersten Absatzes können wir uns bildlich vorstellen, wie der Erzähler als Junge am Lehnstuhl seiner Urgroßmutter sitzt und liest. Die Tatsache, dass er selbst nicht mehr genau weiß, ob er „Leipziger“ oder „Pappes Hamburger Lesefrüchten“ las, bestätigt die realistische Erzählsituation zusätzlich. Wer kann sich nach einem halben Jahrhundert denn schon noch an solche Details erinnern?

Der zweite Absatz eröffnet dann sofort die nächste Erzählebene:

Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag – so begann der damalige Erzähler –, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlangritt. (Zitiert nach Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990, 5)

Der Einschub „so begann der damalige Erzähler“ ist hier enorm wichtig und zeigt zugleich den Erzähler- als auch Perspektivwechsel an. Gleichzeitig widerspricht der zweite Absatz gewissermaßen auch schon dem Ersten: Der Erzähler kann sich nicht mehr genau erinnern, welche Lesereihe er las, aber er kann den Text noch genau wortwörtlich nach knapp 50 Jahren rezitieren? Doch dieses Paradoxon fällt beim Lesen kaum auf, es findet kein Bruch statt, der Text kann einfach gelesen und auch verstanden werden, wie wir es für realistisch erzählte Texte in der Einführung herausgearbeitet haben. 

Das Lesen ist bequem, im kulturellen Archiv sind ganz klassische Erzählsituationen, wie die hier beschriebene, verankert, so dass wir uns den gemütlichen Leseakt des Jungen im Hause seiner Urgroßmutter sehr gut vorstellen können. Wir entwerfen eine Lese-Situation in unserem Kopf, möglicherweise begleitet vom Geräusch eines prasselnden Kamins oder dem Heulen von Wind vor der Haustür.


Fantastik im Schimmelreiter

 Auch die Geschichte der zweiten Erzählebene können wir sofort verorten, nämlich im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts (damit ist natürlich das 19. Jahrhundert gemeint), es ist Oktober, Nachmittag, ein Unwetter, das Ganze geschieht in Nordfriesland. Das Realistische Erzählen funktioniert wunderbar. Doch wie sieht es nun aus, wenn das Fantastische dazu kommt?

Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. Wer war das? Was wollte der? – Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren! (Zitiert nach Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990, 6)

Auch die Spukerscheinung trügt das realistische Erzählverfahren nicht, ganz im Gegenteil: Die genaue Beschreibung der Gestalt trägt zu einem realistischen Eindruck bei. Auch hier wird ein bekannter kultureller Code angesprochen, wenn auch nicht ein ganz so geläufiger wie etwa der der Hexe oder des Außerirdischen. Der unheimliche Reiter, in manchen Erzählungen auch der kopflose Reiter, ist ein uns bekanntes kulturelles Motiv. Die äußere Erscheinung des Schimmelreiters (dunkler langer Mantel, brennende Augen, Geräuschlosigkeit) können wir problemlos diesem Schema zuordnen. 

Die Auslagerung des Übernatürlichen in die Rahmenhandlung bzw. in eine nur mündlich überlieferte, in der Vergangenheit liegende Geschichte, entzieht den fantastischen Elementen die direkte Einflussmöglickeit auf die Handlung der Geschichte, so dass der Text für sich trotzdem eine mimetische Darstellung der Wirklichkeit bleibt. Einzig die Titelfigur, nämlich der Schimmelreiter, zieht sich als Verbindungselement durch alle Erzählebenen. 



Realistische Erzählverfahren des Poetischen Realismus im Kontext der Fantastik

Das ist eine Besonderheit des Poetischen Realismus: In seinen Texten scheint häufig verborgene Bedeutung hindurch, nicht zuletzt der Schimmelreiter und der spukende Chinese sind zwei prominente Beispiele hierfür. 

Die „metonymisch-realistische Textur [bleibt] metaphorisch durchsetzt“ (Baßler 2014, 230). Texte des Poetischen Realismus müssen, seiner eigenen Programmatik nach, natürlich realistisch sein, es muss aber notwendigerweise noch „die ideele Durchdringung, die Verklärung, das Poetische“ hinzukommen (Aust 2006, 246). Die Verklärung kann durchaus abergläubische Elemente beinhalten, „solange das Abergläubische als charakteristisches Moment mit historisch, sozial oder psychologisch spezifischen Bedingungen veknüpft wird.“ (ebd., 246) Aufgrund dieser Definition Austs kann sowohl der Chinesenspuk in Effi Briest als auch der gespenstische Reiter im Schimmelreiter als Teil der Verklärung der realistischen Texte interpretiert werden, die einem realistisches Erzählverfahren keinesfalls im Wege stehen, sondern dieses sogar noch unterstützen können.

Ein populäres Thema des Poetischen Realismus ist außerdem der Gegensatz zwischen Rationalität und Aberglauben bzw. Volksmärchen, der sich natürlich auch sehr gut anhand fantastischer Textelemente darstellen lässt. Hierzu gehört auch die Entmythisierung von Naturkräften und die Kritik an moderner Technik. Auch dieser findet sich in beiden von uns behandelten Texten wieder. Hauke Haien, die Hauptfigur im Schimmelreiter, ist sehr interessiert an Mathematik und Deichbau und versucht den Deich so zu konstruieren, dass er der Natur trotzen kann. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die innerste Erzählebene vom Schulmeister erzählt wird, einer ganz klar aufgeklärten und rationalen Figur. Auch in Effi Briest kommt das Thema auf: Instetten sieht es als Schwäche Effis an, dass sie an den spukenden Chinesen glaubt und abergläubisch ist. Auch hier wird der Gegensatz Aberglaube – Rationalität verhandelt.

Neben diesen Interpretationsmöglichkeiten gibt es noch weitere Varianten, wie die Spukerscheinungen als realistisch bewertet werden können. Denkbar ist z. B. auch die Erklärung, dass es sich in Effi Briest und auch im Schimmelreiter um eine Art ‚Bewusstseinsrealismus‘ handelt; versteht man fantastische Fiktion als Bewusstseinsrealismus, so trägt sie in besonderer Weise zu einer realistischen Erzählweise bei, „[i]ndem sie die psychischen Abgründe ausleuchtet und die verdrängte Wirklichkeit, die Sehnsüchte wie die Ängste, zutage fördert.“ (Freund 1989, 109). Geht man davon aus, dass Effi sich den spukenden Chinesen nur im Traum einbildet und auch der Reiter auf dem Deich aufgrund des tobenden Unwetters halluziniert und gar nicht tatsächlich den Schimmelreiter sieht, wären beide Spukerscheinungen vollkommen realistisch erklärt. Sieht man fantastische Motive also als Bewusstseinsrealismus an, so können diese zu einer besonders realistischen Darstellung der menschlichen Psyche beitragen. Egal welche Interpretation man für plausibler hält, fest steht, dass Fantastisches einem realistischen Erzählverfahren nicht im Wege steht, auch nicht im Poetischen Realismus.


Historisierung als realistisches Erzählverfahren

Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch noch einmal die Historisierung der gesamten Schimmelreiter-Geschichte: Die im Text gegebenen Informationen lassen etwa auf ein Jahr Mitte des 18. Jahrhunderts schließen. 

Dadurch wird die erzählte Geschichte mehrfach gerahmt. In einer vor-realistischen Zeit, also auch um 1750, können Gespenstererscheinungen durchaus auf Realitätskompatibilität prätendieren. Auch das könnte ein spezielles Merkmal Realistischen Erzählens im Poetischen Realismus sein: Die Zurückdatierung auf eine vormoderne Zeit. Ein weiteres Beispiel dafür werden wir im Folgenden genauer beleuchten, nämlich Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute.

Gottfried Keller: Kleider machen Leute (1874)

Bitte lesen Sie hier die ersten Seiten von Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute aus seiner Novellensammlung Die Leute von Seldwyla [aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen Scans nur im geschlossenen Kurs zur Verfügung stellen].

Wie in Effi Briest und im Schimmelreiter ist auch hier der erste Satz des Textes bereits sehr aussagekräftig:

An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. (Zitiert nach Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 8)

Auch hier findet wieder – in typisch-realistischer Manier – eine sofortige Verortung und zeitliche Einordnung des Geschehens statt. Wir lernen die Hauptperson der Geschichte kennen (ein armes Schneiderlein), den Ort des Geschehens (Landstraße nach Goldach, wenige Stunden von Seldwyla entfernt) und erhalten eine zeitliche Einordnung (Novembertag).


Das Spiel mit kulturellen Codes

Problemlos können wir Leser und Leserinnen durch das Verknüpfen des Textwissens mit bekannten kulturellen Codes eine für uns sinnvolle Diegese entwerfen. 

Doch in diesem ersten Satz geschieht noch mehr: Die Verknüpfung geschieht automatisch, daher bemerken wie es beim Lesen möglicherweise gar nicht: Aber wir ordnen diese Geschichte durch den Schreibstil und die Wortwahl einer vormodernen (zumindest vor dem Ende des 19. Jahrhunderts) Zeit zu.

Der Begriff „armes Schneiderlein“ erinnert an Grimms Märchen vom tapferen Schneiderlein; er befindet sich zu Fuß auf dem Weg zu einer „kleinen, reichen Stadt“ namens Goldach – der Wohlstand spiegelt sich sogar im Stadtnamen. Neben dem kulturellen Code ‚Märchen‘ wird in diesem ersten Satz auch gleich noch der Gegensatz zwischen arm und reich als Ausgangspunkt der Novelle betont: Das arme Schneiderlein auf dem Weg in eine reiche Stadt – Ökonomie ist zentrales Thema der Novelle. 

Nur anhand dieses Textanfangs rechnen wir vermutlich mit einem märchenhaften Verlauf der Geschichte: Der arme Schneider findet in Goldach sein Glück und wird reich. Lesen wir Kleider machen Leute zu Ende, dürften wir feststellen: Richtig gedacht. Aber: Das geschieht nicht in märchenhafter Manier, es gibt mehrere Frame-Brüche.

Neben dem kulturellen Code ‚Märchen‘ spielt der Text auch noch mit weiteren Frames, v. a. Trivialromantischen. Alle Handlungen Strapinskis, des Helden der Novelle, werden übertrieben sentimental dargestellt. Selbst sein Gang zurück von der Toilette wird folgendermaßen beschrieben:

Und als der Schneider wieder aus dem langen Gange hervorgewandelt kam, melancholisch wie der umgehende Ahnherr eines Stammschlosses, begleitete er ihn mit hundert Komplimenten und Handreibungen wiederum in den verwünschten Saal hinein. (Zitiert nach Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 12)

Durch diese verschiedenen kulturellen Codes, die bewusst nicht nur beim Rezipienten sondern auch bei den anderen Figuren der Novelle aufgerufen werden, entsteht der im Text zentrale Gegensatz von Sein und Schein. 

Ebenso wie wir Leser und Leserinnen unsere bekannten Frames auf Strapinski projizieren, machen es auch die anderen Figuren der Novelle. Beispielsweise der Wirt und die Köchin im Gasthof interpretieren sehr viel in Strapinskis Aussehen und Verhalten hinein und führen damit dem Leser gewissermaßen seine eigene Erwartungshaltung vor:

Das ist ein Herr von großem Hause, darauf wollt' ich schwören, wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig er ist! Gewiß ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja, ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden! (Zitiert nach Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 13)

Unsere Vorstellung des unglücklich verliebten Märchenprinzen wird auf der Textebene gespiegelt. Diese doppelte Erfüllung der uns bekannten Codes, folglich die Tatsache, dass auch die Figuren des Textes über dasselbe kulturelle Archiv wie wir verfügen, trägt zum realistischen Erzählverfahren bei.

Wir und auch die anderen Figuren erwarten, dass sich Strapinski als Märchenprinz und Held erweist, populäre (Leser)Erwartungen sollen erfüllt werden, doch genau das erweist sich Trugschluss. 

Wendung hin zum programmatischen Realismus

Kleider machen Leute ist eine äußerst spannende Lektüre und wir empfehlen Ihnen daher unbedingt, sich die Novelle ganz durchzulesen. Eine einschlägige kritische Ausgabe davon finden Sie sicherlich in Ihrer Hochschulbibliothek, den Volltext finden Sie auch hier, wobei es sich bei Projekt Gutenberg nicht um eine zitierfähige Textausgabe handelt. 

Der Wendepunkt der Novelle findet spätestens mit Nettchens Ausruf: „Keine Romane mehr!“ (zitiert nach: Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 46) statt. Explizit wird hier Realismus gefordert. Mit dem Satz: „Komm fremder Mensch! [...] ich werde mit dir sprechen und dich fortschaffen!“ (ebd., 40) bricht Nettchen mit den vorher implizierten kulturellen Codes. Schlussendlich nimmt die Novelle ein Happy End, jedoch ganz anders als möglicherweise zu Beginn gedacht. Die finale Problemlösung geschieht nicht durch einen deus ex machina, es taucht keine gute Fee auf, die alles zum Guten hin wendet. Nein, es findet sich eine zeitgemäße, nämlich ökonomische Lösung: „Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen!“ (ebd., 40).

Die realistische Schlusslösung ist nicht nur programmatisch realistisch sondern entspricht auch einem realistischen Erzählverfahren. Die Novelle ist nicht fantastisch, nicht märchenhaft, sondern ganz klar in der bürgerlichen Gesellschaft zu verorten. Wenzel Strapinski vollzieht im Zeitraffer den Schritt vom Handwerker zum kapitalistischen Unternehmer. Das bösartig komische Masken- und Fastnachtsspiel der Seldwyler „demaskiert nicht allein den falschen Grafen, sondern auch das Schein- und Maskenhafte in der bürgerlichen Gesellschaft, die dem einen die Chancen zuwirft, die sie dem anderen versagt.“ (Kaiser 1981, 348)

Auch wenn in der Novelle deutlich ein Frame-Bruch stattfindet, so entspricht dieser trotzdem keinem nicht-realistischem Erzählverfahren. Der Text verfährt weiterhin dominant metonymisch, es findet nur ein Wechsel zwischen bekannten kulturellen Codes statt. Die hervorgerufenen stereotypen Texterwartungen werden nicht erfüllt, dafür werden andere, modernere Frames erfüllt. Die Zeichen der Textebene kommen nicht in den Blick, das Textverstehen ist an jeder Stelle einfach. 

Sehen wir uns Kleider machen Leute unter dem Gesichtspunkt des hermeneutischen Zirkels an, so ist die Zirkelbewegung des Textverstehens zumindest an der Stelle: „Keine Romane mehr!“ kurzzeitig blockiert. Wir müssen unser Vorwissen anpassen: Es handelt sich nicht um ein Märchen oder einen trivialromantischen Text, sondern um einen programmatisch Realistischen. Doch nach Anpassung der kulturellen Codes funktioniert das Textverstehen wieder problemlos, das Textverfahren ist klar realistisch. 


Fazit

In dieser Lektion konnten wir grob den Zeitraum 1830–1890 als Epoche des Poetischen Realismus bestimmen. Eine genaue Datierung ist - wie bei den meisten Epochen - schwierig. 

Novellen und Dorfgeschichten kennzeichnen die Literatur der Poetischen Realismus,der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft und die Hinwendung zur lokalen Heimat wird in den Texten häufig thematisiert. Ein Kernpunkt des Poetischen Realismus ist, dass er die bloße Nachahmung der Welt ablehnt – wichtig ist das ‚poetische‘ am Realismus, welches als Prinzip der ‚Verklärung‘ oder zeitgenössisch auch als ‚Läuterung‘ oder ‚Idealisierung‘ bezeichnet wurde. 

Realistisches Erzähöen herrscht im Poetischen Realismus vor und funktioniert ganz unterschiedlich. Wie Sie anhand der drei Beispiele sehen konnten, ergeben sich die Besonderheiten des jeweiligen realistischen Textverfahrens erst im Zusammenhang des gesamten Textes. Daher möchten wir Ihnen nahelegen, die hier behandelten Text vollständig zu lesen, am besten in einer kritischen Aufgabe, die sicherlich in Ihrer Hochschulbibliothek vorhanden ist, oder zumindest im kostenlos zugänglichen, dafür nicht zitierfähigen, Projekt Gutenberg

Zum einen trägt die besondere Verflechtung metonymischer und metaphorischer Textverfahren zu sehr realistischen, aber zugleich 'poetischen' Erzählverfahren bei. Insgesamt werden in Texten gerne verschiedene Erzählebenen verflochten, häufig auch in komplexen Rahmen-Binnen-Strukturen (Beispiel Schimmelreiter). Historisierung als realistisches Erzählverfahren ist ebenfalls zumeist auf eine Rahmung der Handlung durch eine weitere Ebene zurückzuführen. Insgesamt lässt sich im Poetischen Realismus aber auch ein bewusstes Spiel mit kulturellen Codes feststellen (Beispiel Kleider machen Leute). 

Wir konnten Ihnen hier nur exemplarisch einige realistische Erzählverfahren des Poetischen Realismus vorstellen, in anderen Novellen und Romanen gibt es auch noch andere Möglichkeiten und Verfahren. Deshalb finden Sie am Ende dieses Buchs auch noch das Kapitel „Zum Weiterlesen" mit einer Auswahl an Texten welche wir Ihnen vorschlagen, wenn Sie sich genauer mit dem Poetischen Realismus auseinandersetzen möchten. 



Weiterführende Angebote

In dieser Lektion bieten wir Ihnen zwei weiterführende Angebote an.

Das erste weiterführende Angebot dieser Einführung ist ein Wiki, in dem es darum geht, gemeinsam die konkreten Unterschiede zwischen der Epoche Realismus und Realistischem Erzählen zu erarbeiten. Bitte antworten Sie in ca. 5-10 Sätzen auf die Frage, wie Sie einem Kommilitonen, der nicht Teilnehmer dieses Kurses ist, erklären würden, weshalb man Realismus und Realistisches Erzählen keinesfalls synonym verwenden sollte. Allgemeine Informationen dazu, was ein Wiki ist und wie genutzt werden kann, können Sie dem Glossar entnehmen. Das Wiki ist eine Aufgabe vom Typ 1 und kann für das finale Portfolio verwendet werden. 

Das zweite weiterführende Angebot ist ein Exzerpt. Dabei handelt es sich um eine größere Aufgabe Typ 2, die für das finale Portfolio eingereicht werden kann. Bitte erstellen Sie hierzu ein Exzerpt zum Aufsatz „Realistisches Erzählen am Ende des 19. und am Ende des 20. Jahrhunderts: Theodor Fontane und Woody Allen“ von Johannes Anderegg. Ein Exzerpt dient zur Auswertung von Forschungsliteratur, ein Forschungstext soll so aufbereitet werden, dass er Ihnen in Hinblick auf das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit (also z. B. einer Hausarbeit oder einem Referat) behilflich ist. Exzerpte dienen als ‚Sprungbrett‘ vom Lesen zum Schreiben wissenschaftlicher Texte. Den Aufsatz, Infos zur Textsorte Exzerpt und alle weiteren relevanten Informationen finden Sie in der Aufgabe

Zum Weiterlesen

Wenn Sie sich vertieft mit dem Poetischen Realismus beschäftigen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Primärtexte:

Friedrich Hebbel: Maria Magdalena (Drama, 1843)

Theodor Storm: Immensee (Novelle, 1849)

Theodor Storm: Die Stadt (Gedicht, 1852)

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (Roman, 1854-55)

Gustav Freytag: Soll und Haben (Roman, 1855)

Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe (Novelle, 1856)

Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor (Roman, 1864)

Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch (Roman, 1876)

Felix Dahn: Ein Kampf um Rom (Roman, 1876)

Theodor Fontane: Die Brück’ am Tay (Gedicht, 1879)

Marie Ebner-Eschenbach: Das Gemeindekind (Roman, 1887)

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen (Roman, 1887)

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel (Roman, 1892)

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Fontane, Theodor: Effi Briest [1894]. In: Ders.: Romane. Irrungen Wirrungen, Frau Jenny Treibel, Effi Briest, Der Stechlin. Stuttgart 1975.

Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955.

Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990.


Sekundärliteratur

Aust, Hugo: Realismus. Stuttgart / Weimar: Metzler 2006 (= Lehrbuch Germanistik).

Aust, Hugo: Literatur des Realismus. Stuttgart / Weimar: Metzler 2000 (= Sammlung Metzler, Bd. 157).

Balzer, Bernd: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006 (= Einführungen Germanistik).

Baßler, Moritz: Metaphern des Realismus – realistische Metaphern. Wilhelm Raabes Die Innerste. In: Benjamin Specht (Hg.): Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Berlin 2014, S. 219-231.

Becker, Sabina: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter. 1848–1900. Tübingen / Basel: Francke 2003 (= UTB, Bd. 2369).

Freund, Winfried: Der Bürger und das Grauen. Theodor Storms Erzählung „Am Kamin“ und die phantastische Literatur im 19. Jahrhundert. In: Brian Coghlan (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-Symposiums aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms. Berlin 1989, S. 108-114.

Grawe, Christian / Nürnberger, Helmuth: Fontane-Handbuch. Stuttgart: Kröner 2000.

Kaiser, Gerhard: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt am Main 1981.

Plumpe, Gerhard (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Stuttgart: Reclam 1986 (= Reclams Universalbibliothek, 8277).

Reichelt, Gregor: Fantastik im Realismus. Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane. Stuttgart 2001.

Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin: Akademie Verlag 2010 (= Akademie Studienbücher – Literaturwissenschaft).

Swales, Martin: Epochenbuch Realismus. Berlin: Erich Schmidt 1997 (= Grundlagen der Germanistik).