Gottfried Keller: Kleider machen Leute (1874)

Das Spiel mit kulturellen Codes

Problemlos können wir Leser und Leserinnen durch das Verknüpfen des Textwissens mit bekannten kulturellen Codes eine für uns sinnvolle Diegese entwerfen. 

Doch in diesem ersten Satz geschieht noch mehr: Die Verknüpfung geschieht automatisch, daher bemerken wie es beim Lesen möglicherweise gar nicht: Aber wir ordnen diese Geschichte durch den Schreibstil und die Wortwahl einer vormodernen (zumindest vor dem Ende des 19. Jahrhunderts) Zeit zu.

Der Begriff „armes Schneiderlein“ erinnert an Grimms Märchen vom tapferen Schneiderlein; er befindet sich zu Fuß auf dem Weg zu einer „kleinen, reichen Stadt“ namens Goldach – der Wohlstand spiegelt sich sogar im Stadtnamen. Neben dem kulturellen Code ‚Märchen‘ wird in diesem ersten Satz auch gleich noch der Gegensatz zwischen arm und reich als Ausgangspunkt der Novelle betont: Das arme Schneiderlein auf dem Weg in eine reiche Stadt – Ökonomie ist zentrales Thema der Novelle. 

Nur anhand dieses Textanfangs rechnen wir vermutlich mit einem märchenhaften Verlauf der Geschichte: Der arme Schneider findet in Goldach sein Glück und wird reich. Lesen wir Kleider machen Leute zu Ende, dürften wir feststellen: Richtig gedacht. Aber: Das geschieht nicht in märchenhafter Manier, es gibt mehrere Frame-Brüche.

Neben dem kulturellen Code ‚Märchen‘ spielt der Text auch noch mit weiteren Frames, v. a. Trivialromantischen. Alle Handlungen Strapinskis, des Helden der Novelle, werden übertrieben sentimental dargestellt. Selbst sein Gang zurück von der Toilette wird folgendermaßen beschrieben:

Und als der Schneider wieder aus dem langen Gange hervorgewandelt kam, melancholisch wie der umgehende Ahnherr eines Stammschlosses, begleitete er ihn mit hundert Komplimenten und Handreibungen wiederum in den verwünschten Saal hinein. (Zitiert nach Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 12)

Durch diese verschiedenen kulturellen Codes, die bewusst nicht nur beim Rezipienten sondern auch bei den anderen Figuren der Novelle aufgerufen werden, entsteht der im Text zentrale Gegensatz von Sein und Schein. 

Ebenso wie wir Leser und Leserinnen unsere bekannten Frames auf Strapinski projizieren, machen es auch die anderen Figuren der Novelle. Beispielsweise der Wirt und die Köchin im Gasthof interpretieren sehr viel in Strapinskis Aussehen und Verhalten hinein und führen damit dem Leser gewissermaßen seine eigene Erwartungshaltung vor:

Das ist ein Herr von großem Hause, darauf wollt' ich schwören, wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig er ist! Gewiß ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja, ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden! (Zitiert nach Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 13)

Unsere Vorstellung des unglücklich verliebten Märchenprinzen wird auf der Textebene gespiegelt. Diese doppelte Erfüllung der uns bekannten Codes, folglich die Tatsache, dass auch die Figuren des Textes über dasselbe kulturelle Archiv wie wir verfügen, trägt zum realistischen Erzählverfahren bei.

Wir und auch die anderen Figuren erwarten, dass sich Strapinski als Märchenprinz und Held erweist, populäre (Leser)Erwartungen sollen erfüllt werden, doch genau das erweist sich Trugschluss.