Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888)

Realistische Erzählverfahren des Poetischen Realismus im Kontext der Fantastik

Das ist eine Besonderheit des Poetischen Realismus: In seinen Texten scheint häufig verborgene Bedeutung hindurch, nicht zuletzt der Schimmelreiter und der spukende Chinese sind zwei prominente Beispiele hierfür. 

Die „metonymisch-realistische Textur [bleibt] metaphorisch durchsetzt“ (Baßler 2014, 230). Texte des Poetischen Realismus müssen, seiner eigenen Programmatik nach, natürlich realistisch sein, es muss aber notwendigerweise noch „die ideele Durchdringung, die Verklärung, das Poetische“ hinzukommen (Aust 2006, 246). Die Verklärung kann durchaus abergläubische Elemente beinhalten, „solange das Abergläubische als charakteristisches Moment mit historisch, sozial oder psychologisch spezifischen Bedingungen veknüpft wird.“ (ebd., 246) Aufgrund dieser Definition Austs kann sowohl der Chinesenspuk in Effi Briest als auch der gespenstische Reiter im Schimmelreiter als Teil der Verklärung der realistischen Texte interpretiert werden, die einem realistisches Erzählverfahren keinesfalls im Wege stehen, sondern dieses sogar noch unterstützen können.

Ein populäres Thema des Poetischen Realismus ist außerdem der Gegensatz zwischen Rationalität und Aberglauben bzw. Volksmärchen, der sich natürlich auch sehr gut anhand fantastischer Textelemente darstellen lässt. Hierzu gehört auch die Entmythisierung von Naturkräften und die Kritik an moderner Technik. Auch dieser findet sich in beiden von uns behandelten Texten wieder. Hauke Haien, die Hauptfigur im Schimmelreiter, ist sehr interessiert an Mathematik und Deichbau und versucht den Deich so zu konstruieren, dass er der Natur trotzen kann. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die innerste Erzählebene vom Schulmeister erzählt wird, einer ganz klar aufgeklärten und rationalen Figur. Auch in Effi Briest kommt das Thema auf: Instetten sieht es als Schwäche Effis an, dass sie an den spukenden Chinesen glaubt und abergläubisch ist. Auch hier wird der Gegensatz Aberglaube – Rationalität verhandelt.

Neben diesen Interpretationsmöglichkeiten gibt es noch weitere Varianten, wie die Spukerscheinungen als realistisch bewertet werden können. Denkbar ist z. B. auch die Erklärung, dass es sich in Effi Briest und auch im Schimmelreiter um eine Art ‚Bewusstseinsrealismus‘ handelt; versteht man fantastische Fiktion als Bewusstseinsrealismus, so trägt sie in besonderer Weise zu einer realistischen Erzählweise bei, „[i]ndem sie die psychischen Abgründe ausleuchtet und die verdrängte Wirklichkeit, die Sehnsüchte wie die Ängste, zutage fördert.“ (Freund 1989, 109). Geht man davon aus, dass Effi sich den spukenden Chinesen nur im Traum einbildet und auch der Reiter auf dem Deich aufgrund des tobenden Unwetters halluziniert und gar nicht tatsächlich den Schimmelreiter sieht, wären beide Spukerscheinungen vollkommen realistisch erklärt. Sieht man fantastische Motive also als Bewusstseinsrealismus an, so können diese zu einer besonders realistischen Darstellung der menschlichen Psyche beitragen. Egal welche Interpretation man für plausibler hält, fest steht, dass Fantastisches einem realistischen Erzählverfahren nicht im Wege steht, auch nicht im Poetischen Realismus.