Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888)

Verflechtung verschiedener Erzählebenen

Wie Sie anhand der ersten Seiten der Novelle erkennen konnten, gibt es in Der Schimmelreiter nicht nur einen Erzählstrang, sondern mehrere. Es handelt sich um eine Meta-Erzählung, in welcher verschiedene Erzählebenen, Binnen- und Rahmenhandlungen, verschachtelt sind. Diese besondere realistische Erzählweise wird bereits im ersten Absatz der Novelle sehr deutlich:

Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den ‚Leipziger‘ oder von ‚Pappes Hamburger Lesefrüchten‘. Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe. (Zitiert nach Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990, 5)

Der Ich-Erzähler erzählt eine Geschichte, die ihm im wahren Leben passiert ist, nämlich vor „reichlich einem halben Jahrhundert“ und im „Hause seiner Urgroßmutter der alten Frau Senator Fedderson.“ Wir erfahren also schon recht viel im allerersten Satz, die Geschichte ist klar verortet. Beim Lesen dieses ersten Absatzes können wir uns bildlich vorstellen, wie der Erzähler als Junge am Lehnstuhl seiner Urgroßmutter sitzt und liest. Die Tatsache, dass er selbst nicht mehr genau weiß, ob er „Leipziger“ oder „Pappes Hamburger Lesefrüchten“ las, bestätigt die realistische Erzählsituation zusätzlich. Wer kann sich nach einem halben Jahrhundert denn schon noch an solche Details erinnern?

Der zweite Absatz eröffnet dann sofort die nächste Erzählebene:

Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag – so begann der damalige Erzähler –, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlangritt. (Zitiert nach Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990, 5)

Der Einschub „so begann der damalige Erzähler“ ist hier enorm wichtig und zeigt zugleich den Erzähler- als auch Perspektivwechsel an. Gleichzeitig widerspricht der zweite Absatz gewissermaßen auch schon dem Ersten: Der Erzähler kann sich nicht mehr genau erinnern, welche Lesereihe er las, aber er kann den Text noch genau wortwörtlich nach knapp 50 Jahren rezitieren? Doch dieses Paradoxon fällt beim Lesen kaum auf, es findet kein Bruch statt, der Text kann einfach gelesen und auch verstanden werden, wie wir es für realistisch erzählte Texte in der Einführung herausgearbeitet haben. 

Das Lesen ist bequem, im kulturellen Archiv sind ganz klassische Erzählsituationen, wie die hier beschriebene, verankert, so dass wir uns den gemütlichen Leseakt des Jungen im Hause seiner Urgroßmutter sehr gut vorstellen können. Wir entwerfen eine Lese-Situation in unserem Kopf, möglicherweise begleitet vom Geräusch eines prasselnden Kamins oder dem Heulen von Wind vor der Haustür.