Was ist Realistisches Erzählen?

Zum Verstehensprozess

An dieser Stelle soll noch einmal kurz auf die Wirkung realistisch erzählter Literatur eingegangen werden. Nun, da geklärt ist, was metonymische Verfahren und kulturelle Codes sind, bleibt die Frage: Welche Wirkung wird denn nun durch metonymische und somit realistische Erzählverfahren erzielt?

Wir haben schon festgestellt, dass realistische Literatur leicht zu verstehen und somit bequem zu lesen ist. Doch wie genau kommt dieser vereinfachte Lese- bzw. Verstehensprozess zustande? 

An dieser Stelle soll ein kurzer Rückgriff auf die Literaturtheorie der Hermeneutik helfen. Hier finden Sie zwei Artikel zum hermeneutischen Zirkel, einen Lexikonartikel und eine methodologische Darstellung [aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen die Scans nur im geschlossenen Kurs zur Verfügung stellen].

(Quelle: Berensmeyer, Ingo: Methoden hermeneutischer und neohermeneutischer Ansätze. In: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen. Stuttgart 2010, S. 29-50, hier 34)

Im Sinne einer Zirkelbewegung (daher der Begriff: Hermeneutischer Zirkel) wird immer wieder das Textverständnis mit dem Vorverständis abgeglichen. Bei realistisch erzählten Texten funktioniert das einwandfrei, da die Frames und kulturellen Codes stimmig sind und sich nicht widersprechen. Die Zirkelbewegung kann ungestört verlaufen, es kommt zu keinem Bruch im Verständnis: 

Realistische Lektüren sind hermeneutische und damit tendenziell gläubige Lektüren, Lektüren, die um ein Sinnzentrum kreisen; und wir glauben dem realistischen Narrativ so gern, weil es uns erzählt, was wir ohnehin schon wissen: Nazis sind böse, Gauß war ein deutsches Genie, Russen sind grausam, aber auch tief gläubig, und Wanderhuren hatten es im Mittelalter schwer. (Baßler 2013b, 43)

Im Gegensatz dazu setzt nicht-realistisch erzählte Literatur dem Verständnis erhebliche Widerstände entgegen. Auch hier versuchen wir in unserer Lektüre zunächst, die Textbefunde in einen konsistenten Frame zu zwingen; wir wollen eine Diegese aufbauen, eine Erzählwelt konstruieren, doch will dies nicht auf Anhieb gewinnen. Der nicht-realistische Text versteht sich nicht von selbst, „der erste Leseeindruck ist vielmehr Unverständlichkeit, zumindest reagieren wir mit einem qualifizierten ‚Hä??‘“ (Baßler 2015, 23). Hier ist der hermeneutische Zirkel blockiert, der Verstehensvorgang zwischen Text- und Bedeutungsebene ist vielleicht nicht ausgesetzt, aber zumindest entautomatisiert, das Lesen ist weder verständlich, noch bequem. 

Das Besondere an einem realistischen Text ist also: Er weiß immer schon, was eine Person ist, eine Frau, oder ein Vernichtungslager. Wir haben eine (kulturell codierte) Vorstellung davon und der realistische Text bestätigt diese, indem er dieselben Vorstellungen seinem Text zugrunde legt. Es gibt kein „qualifiziertes Hä??‘“, sondern höchstens ein bestätigendes Aha!!'. In einer unheimlich gewordenen Welt ohne verlässliches Sinnzentrum stützt sich der realistische Text auf verlässliche Strukturen und ermöglicht dadurch eine bequeme und leicht verständliche Lektüre (vgl. Baßler 2013b, 41). Man liest. Und versteht.

Exkurs: Diegese

Falls Ihnen der Begriff der Diegese nicht geläufig ist, hier eine kurze Definition: In der ursprünglichen Definition nach Gérard Genette ist die Diegese das Universum, in dem die Geschichte spielt (vgl. Genette 2010, 183). In erzähltheoretischer Verwendung bedeutet Diegese schlicht „die in einem Text dargestellte Welt“ oder auch die erzählte Welt‘ (Weimar 2007, 360). Die erzählte Welt oder Diegese ist der „Inbegriff der Sachverhalte, die von einem narrativen Text als existent behauptet oder impliziert werden.“ (Martinez / Scheffel 2007, 192). Diese erzähltheoretische Bedeutung des Begriffs Diegese wird diesem Seminar zugrunde gelegt.