Zur Unterscheidung: Nicht-Realistisches Erzählen

Gegenüberstellung: realistisch vs. nicht-realistisch erzählte Literatur

Beispiel 1

An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. (zitiert nach Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen; zweiter Band [1856]. Berlin 1955, 8)

Der Anfang von Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute ist der Epoche des Poetischen Realismus zuzuordnen – und ein Beispiel für ein realistisches Erzählverfahren. Kellers Text arbeitet mit ausführlichen Attributionen, wir erfahren lokale Bestimmungen (Landstraße nach Goldach, kleine reiche Stadt, nur wenige Stunden entfernt von Seldwyla), Angaben zur temporalen Bestimmung (Novembertag) und Angaben zur Person (armes Schneiderlein, wandert). Alle diese Angaben sind problemlos in einem Frame miteinender vereinbar, nichts widerspricht sich, nichts lässt uns stutzen. Wir können uns die Szene geradezu optisch vorstellen und mit den bekannten kulturellen Codes eine für uns sinnvolle Diegese entwerfen.

Darüber hinaus enthalten die Frames, die automatisch aufgerufen werden, wesentlich mehr Informationen, als auf der Textebene wirklich notiert sind. Der Begriff „armes Schneiderlein“ erinnert an Grimms Märchen vom tapferen Schneiderlein; er befindet sich zu Fuß auf dem Weg zu einer „kleinen, reichen Stadt“ namens Goldach – der Wohlstand spiegelt sich sogar im Stadtnamen. Neben dem kulturellen Code 'Märchen' wird in diesem ersten Satz auch gleich noch der Gegensatz zwischen arm und reich als Ausgangspunkt der Novelle betont: Das arme Schneiderlein auf dem Weg in eine reiche Stadt – Ökonomie könnte also zentrales Thema der Novelle sein. Nur anhand dieses Textanfangs rechnen wir vermutlich mit einem märchenhaften Verlauf der Geschichte: Der arme Schneider findet in Goldach sein Glück und wird reich. Solche Annahmen konstituieren die Diegese automatisch mit, auch wenn sie im Text nicht explizit erwähnt sind, und sie bestimmen unseren Erwartungshorizont beim Weiterlesen.

Beispiel 2

Die Kröten schreien im Teich, sie müssen schlafen, es ist Winter. Meine Haut ist starkes Eis, viele Meter um mich herum liegt es einsam, und der Kopf hängt darüber hinaus und schlägt nach allen Seiten auf. (Hardenberg 1988, 64)

Dieser Textausschnitt ist der Anfang von Henriette Hardenbergs Prosastück Tröstung, das der expressionistischen Kurzprosa zuzuordnen ist. Zwar ist der Text syntaktisch unauffällig, inhaltlich ist er jedoch schwer verständlich. Wir versuchen automatisch, beim Lesen einen Frame, eine Diegese zu bilden, allerdings erfolglos. Die zahlreichen Framebrüche in diesem Text lassen das Entstehen einer stabilen Diegese mit einer raum-zeitlichen Ordnung, konsistenten Figuren und Handlungen nicht zu. Der hermeneutische Zirkel zwischen Textphänomenen und ihrer Deutung ist blockiert, der Leser hat größte Schwierigkeiten, überhaupt eine Darstellungsebene zu erschließen. Der Text bleibt in gewisser Form unverständlich (vgl. Baßler 2015, S. 25-26). Trotzdem ist der Text natürlich nicht vollkommen unverständlich, nach einem anfänglichen Hä??‘ können wir auch aus diesem Text eine Darstellungsebene erschließen; dieser Vorgang ist nur stark erschwert und nicht automatisiert, wie es bei realistisch erzählter Literatur der Fall ist. Das Erzählverfahren ist nicht metonymisch, sondern metaphorisch. Den Text dürfen wir nicht in einer realweltlichen Beziehung verstehen (das ergibt schwerlich Sinn, denn Kröten schreien nicht und Haut kann nicht starkes Eis sein), sondern müssen es in einer Ähnlichkeitsrelation lesen. So ergibt dieser kurze Absatz beispielsweise die metaphorische Bedeutung, dass das sprechende „Ich-Subjekt“ sich mit einer Winterlandschaft vergleicht, das tertium comparationis könnte hier beispielsweise das Thema Erstarrung‘ sein (vgl. Baßler 2015, 24). Nicht-realistisch erzählte Literatur ist folglich nicht sinnlos – keineswegs. Sie ist nur schwerer zu lesen und sie zu verstehen erfordert mehr Aufwand.