Was ist Realistisches Erzählen?

Bevor wir uns der Frage zuwenden, was genau realistische Erzählverfahren sind, soll hier kurz darauf eingegangen werden, woran man Realistisches Erzählen erkennt. Denn tatsächlich definiert sich Realistisches Erzählen hauptsächlich über die Wirkung, die es auf den Leser hat. 


[M]it Realismus ist zunächst ein Verfahren bezeichnet, die Technik, so zu schreiben, dass sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese, präsentiert, ohne dass er zunächst mit Phänomenen der Textebene zu kämpfen hätte. [...] Ein Text, dessen Faktur ein solches unmittelbares Verstehen ermöglicht, wird von uns als realistischer empfunden. (Baßler 2011, 91)

Oder einfacher formuliert:

Man liest. Und versteht. Ohne störendes Dazwischenfunken der poetischen Sprache; denn zum realistischen Effekt gehört, daß man die Verfahren, die ihn hervorrufen, nicht bemerkt. (Baßler 2002, 72)

Realismus als Verfahren ist für den Leser vor allem eines: bequem (vgl. Baßler 2013a, 33). Das wirkt nun zunächst einmal sehr trivial: Realistische Texte sind leicht zu verstehen. Und tatsächlich haben realistische Strömungen bis in die Gegenwart hinein immer wieder das Bedürfnis, sich gegen diesen Trivialitätsanspruch zu verteidigen. Es stünde unter diesem Vorzeichen ja auch die Frage in diesem Kurs: Warum sollen wir uns mit so etwas Trivialem wie realistischer Literatur beschäftigen? Deshalb sei an dieser Stelle schon einmal vorweggenommen: Realistische Texte sind nicht trivial! Das Verfahren an sich ist zwar trivial, allerdings spiegelt sich diese Trivialität keineswegs auf die Inhaltsebene (vgl. Baßler 2013a, 42). 

Die Stärke realistisch erzählter Texte liegt also zunächst „weniger in der Sprache als im Plot“ (Baßler 2002, 71). Das Kriterium Verständlichkeit macht realistisch erzählte Literatur bei einem breiten Publikum spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts beliebt, ohne dabei an literarischer Qualität einzubüßen.

Das macht Realistisches Erzählen zu einem überhistorisch erfolgreichen Konzept, das nicht nur bei Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen, sondern vor allem auch bei den Leserinnen und Lesern sehr gut ankommt.