Einführung: Was ist Realistisches Erzählen? (Buch)
Wenn von 'Realismus' die Rede ist, hat das für uns Literaturwissenschaftler vor allem zwei Bedeutungen: Zum einen wird damit (mit entsprechender zeitlicher Eingrenzung von ca. 1848 bis ca. 1890) die – von uns im Rahmen von Lektion III behandelte – literaturgeschichtliche Epoche des Realismus benannt. Zum anderen bezeichnet der Begriff aber auch noch etwas ganz anderes, nämlich eine epochenunabhängige realistische Erzählweise. In dieser einführenden Lektion soll es um die zweitgenannte Bedeutung gehen. Bevor sich im Folgenden Lektion um Lektion Epochen der deutschsprachigen Literaturgeschichte sowie konkreten Beispielen des Realistischen Erzählens in diesen Epochen zugewandt wird, geht es um eine Einführung des Realistischen Erzählens an sich.
Zur Unterscheidung: Nicht-Realistisches Erzählen
Nach allem, was wir bisher als Realismus und Realistisches Erzählen erörtert haben, machen wir die Gegenprobe: Was ist Nicht-Realistisches Erzählen?
Der erste Gedanke ist möglicherweise: Natürlich etwas Fantastisches! Eine Hexe, ein Geist, ein Außerirdischer – das ist doch unrealistisch in einem Roman. Doch genau an dieser Stelle liegt ein Denkfehler vor; denn, wie wir bereits erörtert haben, muss man Realismus ganz klar von Realistik trennen. Im Sinne der Realistik wäre in der Tat eine Hexe oder ein Außerirdischer unrealistisch – nicht jedoch im Sinne des Realismus.
Da Realismus auf kulturellem Wissen basiert, kann auch fantastische Literatur sehr realistisch sein. Schließlich haben wir alle einen kulturellen Frame, d.h. Vorwissen zu Begriffen wie beispielsweise ‚Hexe‘, ‚Geist‘ oder ‚Außerirdischer‘. Wenn in einem Text von einer Hexe die Rede ist, denken wir möglicherweise sofort an eine alte Frau mit großer Nase, ein Hexenhäuschen, einen fliegenden Besen, einen Zauberstab und Ähnliches. Die Begriffe sind uns nicht fremd, unser Gehirn kann diese sofort verarbeiten, sie stehen einer realistischen Erzählweise nicht im Wege.
Das bringt uns zurück zur Kernfrage dieser Lektion: Was ist dann das Gegenteil von realistischem Erzählen? Die Antwort kann lauten: Ein Text, der mit unseren kulturellen Frames bricht, der sie verunsichert; ein Text, der seine eigene Künstlichkeit jederzeit ausstellt und im Extremfall nahezu unverständlich ist. Realistisch erzählte Literatur greift auf bekannte kulturelle Codes zurück, nicht-realistische Literatur macht genau das Gegenteil, indem sie den Rückgriff auf kulturell unbekannte Codes fordert (vgl. Baßler 2013b, 28 und 36).
Dementsprechend ist das Gegenteil des realistisch erzählten Textes nicht der fantastische Text, sondern der Text, der mit unseren kulturellen Frames und Skripten bricht, sie verunsichert – ein tendenziell metaphorisches Verfahren, das seine eigene Künstlichkeit jederzeit ausstellt und im Extremfall zu Texten an der Grenze zur Unverständlichkeit führt (vgl. Baßler 2013b, 28).
Doch wie sieht ein nicht-realistisch erzählter Text aus und unterscheidet er sich tatsächlich so stark von realistisch erzählter Literatur? Im Folgenden sollen zwei Beispiele den Unterschied zwischen realistischem und nicht-realistischem Erzählen veranschaulichen.