6. Thränen des Vaterlandes Anno 1636

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!

Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun

Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /

Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.

Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.

Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /

Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun

Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.

Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.

Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt /

Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen

Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /

Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth

Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.

Andreas Gryphius


Das Sonett, das sich mit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert in Deutschland und Europa beschäftigt, spricht sich ganz bewusst gegen den Krieg aus und ist somit noch heute von enormer Aktualität.

Der Autor, Andreas Gyphius, beschreibt in 14 Zeilen, welche Folgen und Ausmaße ein Krieg mit sich bringt. Dabei scheut er sich nicht, die Wahrheit zu sagen: Feuer, Blut, Hungersnot, Pest und Tod wartet auf das Vaterland Deutschland.  Wie auch schon die Schilderung des Sachsenkriegs im Nibelungenlied zeigte, wird das Augenmerk der Kriegsschilderung auf Akustik und Visualität gelegt, um Bilder beim Leser zu erzeugen. Diese Bilder sollen Grauen erregen, über die Tatsachen informieren und hier - im Unterschied zum Nibelungenlied - nichts verschönen. Die letzte Zeile relativiert somit den Verlust von den zuvorgenannten materiellen Gegenständen und von der Zerstörung der Gebäude und Häuser, da für das lyrische Ich der Verlust der Seele, des christlichen Glaubens, die eigentliche Entehrung ist.


Weiterführende Literatur:

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