5. Macht

5.4. Anwendung: Macht und Beratung


Natürlich wird auch in Beratungssituationen Macht thematisiert:

  1. die Macht der Droge in einer Suchtberatung
  2. die Macht der Banken in einer Schuldnerberatung
  3. die Macht der Partner in einer Eheberatung etc.
  4. die „Ohnmacht“ der Erziehenden in einer Erziehungsberatung

Die verschiedenen tatsächlichen und subjektiv wahrgenommenen (Mentale Modelle) Machtressourcen von Beteiligten sind grundsätzlich Teil des zu beratenden Problems.

Will man darüber hinaus aber das Thema „Macht“ in der Beratungsbeziehung thematisieren, wird es meist schwierig.

Bei vielen Beratern wird man die Meinung finden, dass Macht in der Beratungssituation keinen Platz haben darf. Und bei vielen Ratsuchenden wird man - wahrscheinlich - die subjektive Erfahrung erfragen können, dass Macht in der Beratungssituation einen großen Platz eingenommen hat.

Viele Beratungsansätze schreiben dem Beratenden wenigstens Expertenmacht (expert power) zu. Ein tiefenpsychologisch-orientierter Berater wird einen Abwehrmechanismus wahrnehmen können, den der Ratsuchende selbst so nicht erkennen kann. Ein kognitiv-verhaltensorientierter Berater wird vielleicht folgendes „erkennen“:

Beispiel B.02.23a: Der tägliche Kampf um die Hausaufgaben

Eine Mutter schildert das für sie nicht mehr ertragbare Verhalten ihres Sohnes, wenn er Hausaufgaben machen soll: 

Verweigerung 

Flucht 

Weinkrämpfe 

Aggression 

Jeder Nachmittag wird zu einer Tortur für Mutter und Sohn:

Es ist Dienstagnachmittag 13:30 Uhr. Max (11 Jahre alt) kommt gerade von der Schule nach Hause. Das Mittagessen steht schon auf dem Tisch – seine Leibspeise. Die Mutter hat sie ihm liebevoll zubereitet und hübsch auf seinem Teller angerichtet. Sie hofft nun, dass das mit den Hausaufgaben heute besser klappt, als in den letzten Wochen. Schließlich hat sie ihrem Jungen jetzt ja etwas Gutes getan.

Gestärkt vom Mittagessen und einer kurzen Pause vor dem Fernseher soll Max nun mit den Hausaufgaben beginnen. Da es heute wieder besonders viele sind, vor allem in Mathe, womit Max einige Probleme hat, ahnt sie bereits, was ihr noch blüht. Es ist mittlerweile 14:30 Uhr und Max hat von 18:00-19:30 Uhr noch Fußballtraining, zu dem er leidenschaftlich gerne geht. Bis er wieder aus dem Haus muss, soll er die Hausaufgaben erledigt haben.

Als die Mutter ihn um 14:45 Uhr freundlich an seine Hausaufgaben erinnert, bleibt Max vor dem Fernseher sitzen und schaut neugierig das Nachmittagsprogramm. Um 15:00 Uhr schaut erneut die Mutter ins Wohnzimmer, um nach dem Stand der Hausaufgaben zu fragen. 

Als sie um 16:00 Uhr den Fernseher einfach ausschaltet und Max vor die Wahl stellt die Hausaufgaben entweder jetzt zu machen oder anstelle des Fußballtrainings, rennt Max beleidigt in sein Zimmer. Als die Mutter ihm nachgeht, verschließt er seine Tür und schreit, dass sie ihm nicht einfach jeglichen Spaß verbieten könne. Schließlich brauche er zum anstrengenden Schulalltag auch einen Ausgleich; er könne nicht pausenlos über den „Schulkram“ nachdenken.

Die Mutter versucht ihm zu erklären, dass sie ihm seinen Ausgleich gar nicht verbieten will, aber sich um seine Noten sorgt. Es steht nämlich bald eine Mathearbeit an und Max könnte eine gute Note wirklich gebrauchen. Daraufhin hört sie nur noch lautes Schluchzen.

Durch guten Zuspruch kann sie den Jungen wenigstens dazu bewegen, seine Tür wieder aufzusperren. Doch als sie das Zimmer betritt, fliegt ihr bereits das Matheheft entgegen. Unter Tränen schreit Max seine Mutter an. Jeglicher Zuspruch und Erklärungsversuch der Mutter stößt auf taube Ohren. Max wird nur noch wütender. Als er dann noch anfängt seine Mutter zu beschimpfen, verlässt sie weinend Max‘ Zimmer. Sie ist völlig überfordert und weiß nicht wie sie dieses Problem wieder in den Griff bekommen soll. 

Auf Grund mehrerer Anamnesen und Explorationsgespräche verfügt der Berater dann über genügend Informationen, um sich ein Modell zu bilden. Als Grundlage wählt er das S-O-R-K-C-Modell (Kanfer & Saslow, 1965; Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012).


Kreislauf: Situation, Organismus, Reaktion, Kontingent, Konsequenz hat wieder Einfluss auf Organismus usw. 

Abb. A.02.06: S-O-R-K-C-Schema

S-O-R-K-C-Modell. S Stimulus: interne und externe Reize, die auf den Organismus einwirken (z.B. Intern: Erwartung von Misserforlg; extern: ein strenger Blick eines Prüfers). O Organismus: Situationsübergreifende biologische und psychische Merkmale der Person, die die Aktualgenese des Problemverhaltens mediieren (z.B. Temperamentsmerkmale). R Reaktion: Kognitiv-emotionale, phyiologische und behaviorale Reaktionen (z.B. ich beherrsche den Lernstoff nicht (kognitiv), Schweißausbrüche (physiologische Reaktion)). K Kontingenz: Auf das PRoblemverhalten folgen manchmal, immer, regelmäßig bestimmte Konsequenzen (z.B. Verstärkerplan). C Konsequenz: Negative und positive Verstärkung. 

Abb. A.02.07: Erläuterung zum S-O-R-K-C-Schema (Tuschen-Caffier & von Gemmeren, 2009, S. 365)

Dieses Modell bietet ihm Ableitungen für die Beratung und Intervention in diesem Fall, so wird er auf Grund des Modelles vielleicht inkonsequentes Erziehungsverhalten ausmachen und ansprechen oder das fehlende Modellverhalten der Mutter thematisieren, etc. 

Beispiel B.02.23b: SORKC-Modell für das Verhalten von Max Mutter 

  • S (Stimulus/auslösende Situation) bezeichnet eine äußere oder innere Reizsituation. Der Stimulus erfasst die das Verhalten auslösenden Bedingungen (In welcher Situation tritt das Verhalten auf?):  Nach dem Mittagessen und einer Pause soll Max seine Hausaufgaben machen. Max will aber seine Ruhe haben und nichts von Hausaufgaben wissen. 
  • O (Organismus) bezeichnet die individuellen biologischen und lerngeschichtlichen Ausgangsbedingungen bzw. Charakteristika der Person: Die Mutter befürchtet, dass Max wieder viele Hausaufgaben machen muss und sich weigern wird. 
  • R (Reaktion) bezeichnet die Reaktion auf den Stimulus/die auslösende Situation nach der Verarbeitung durch den Organismus auf kognitiver, motorischer, vegetativer und affektiver Ebene:  Die Mutter hat beinahe Angst überhaupt nach Hausaufgaben zu fragen und traut sich kaum ihren Sohn dazu aufzufordern sie zu erledigen (Denn wenn sie ihn danach fragt, schaltet er auf stur). Sie erinnert ihn deshalb zunächst einmal nur freundlich an die Hausaufgaben und verlässt dann erst einmal wieder das Zimmer. 
  • K (Kontingenz) bezeichnet die Regelmäßigkeit des Auftretens der Konsequenz nach der Reaktion: Immer wenn die Mutter sich nur kurz nach den Hausaufgaben erkundigt, bleibt Max friedlich. 
  • C (Konsequenz) bezieht sich darauf, welche Konsequenz das Verhalten nach sich zieht (z.B. Verstärkung/Bestrafung): Die Mutter geht so einem Konflikt zunächst aus dem Weg.

Auf Grund seines spezifischen Wissens über Modelle zur Entstehung problematischen Verhaltens kann sich der Berater ein spezifisches Modell über die jeweilige Situation machen. Ob und wie weit er dieses Modell mit der ratsuchenden Mutter teilt, wird sich aus der jeweiligen Beratungssituation ergeben. Der Berater verfügt also über Expertenmacht (expert power) und Informationsmacht (information power). 

Zu beachten ist hierbei außerdem, dass natürlich sowohl auf Seiten der Mutter als auch auf Seiten des Beraters persönliche und gesellschaftliche Werte, Vergleiche mit anderen Personen usw. (inwieweit ist das Verhalten des Sohnes „normal“, nicht mehr ertragbar...) die individuellen Sichtweisen beeinflussen und somit eine gewisse „Macht“ auf deren Verhalten, Einstellungen, Lösungsansätze etc. ausüben. Kommt der Berater zum Beispiel zu dem Schluss, dass die Mutter das Verhalten des Kindes in einem völlig normalen Rahmen abläuft, die Mutter dieses Verhalten aber „als unertragbar überbewertet“, wird er der Mutter andere Ratschläge erteilen (müssen) als wenn er feststellt, dass das Kind tatsächlich ungewöhnlich starken Widerstand und Trotzverhalten an den Tag legt, wenn es die Hausaufgaben machen soll 

Beispiel B.02.24: Der tägliche Kampf mit den Hausaufgaben — vielleicht doch so? 

Es ist Dienstagnachmittag 13:30 Uhr. Max (11 Jahre alt) und sein Bruder Moritz (14 Jahre alt) kommen gerade von der Schule nach Hause. Das Mittagessen steht schon auf dem Tisch – Max‘ Leibspeise. Die Mutter hat das Essen liebevoll zubereitet und hübsch auf den Tellern angerichtet. Sie hofft nun, dass das mit den Hausaufgaben heute besser klappt, als in den letzten Wochen. Schließlich hat sie ihrem Jungen jetzt ja etwas Gutes getan.

Gestärkt vom Mittagessen und einer kurzen Pause vor dem Fernseher soll Max nun mit den Hausaufgaben beginnen. Da es heute wieder besonders viele sind, vor allem in Mathe, womit Max einige Probleme hat, ahnt sie bereits, was ihr noch blüht. Es ist mittlerweile 14:30 Uhr und Max hat von 18:00-19:30 Uhr noch Fußballtraining, zu dem er leidenschaftlich gerne geht. Bis er wieder aus dem Haus muss, soll er die Hausaufgaben erledigt haben. Als die Mutter ihn um 14:45 Uhr freundlich an seine Hausaufgaben erinnern will, muss er noch auf Toilette. Danach setzt er sich in sein Zimmer und sieht in seinem Hausaufgabenheft nach, was er alles auf hat. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hat, fängt er gleich mit den ungeliebten Matheaufgaben an, damit er sie hinter sich hat.

Um 15:00 Uhr schaut die Mutter nach, ob Max auch wirklich seine Hausaufgaben macht und nicht von seinen Spielsachen abgelenkt wird. Doch Max ist nicht in seinem Zimmer. Es stellt sich heraus, dass er schon wieder auf Toilette war. Die Mutter ermahnt ihn, dass er jetzt seine Hausaufgaben machen und nicht ständig aus seinem Zimmer rennen solle. Schließlich sitze sein Bruder auch gerade brav über seinen Hausaufgaben. Überhaupt habe er sich immer bemüht sofort nach der Schule alle Hausaufgaben zu erledigen.

Da Max an diesem Tag aber einfach viel getrunken hatte (die achte Klasse hat sich um einen Tag der gesunden Ernährung gekümmert und hat in der Pause kostenlos Tee und Wasser und für 1€ gesunde Pausenbrote verkauft), musste er wirklich oft auf Toilette. Da sich Max nun missverstanden fühlte beginnt er zu weinen. Die Mutter unterstelle ihm einfach, dass er keine Lust habe, obwohl sie doch wissen müsse, dass heute der Tag der gesunden Ernährung war. Schließlich brauchten er und sein Bruder weder ein Pausenbrot noch Getränke mit zur Schule zu nehmen.

Daraufhin fragte die Mutter nach den letzten Wochen: Es häufe sich ja in letzter Zeit, dass Max seine Hausaufgaben nur sehr ungern und mit Widerstand mache. Zugegebenermaßen hat er nicht immer die Lust oder Kraft dazu gleich nach der Schule auch noch alle Hausaufgaben zu erledigen. Er brauche einfach manchmal eine längere Pause. 

Als die Mutter dann erneut Max mit seinem Bruder vergleicht, wird er sauer: Er sei eben nicht sein Bruder. Er könne nicht ununterbrochen „Schulzeug“ machen. Er habe seine Hausaufgaben schon immer zuverlässig erledigt, wenn auch mit einer längeren Pause.

Die Mutter fühlt sich angegriffen und versteht ihren jüngeren Sohn nicht, da sie die Arbeitsweise ihres Älteren gewöhnt ist. Sie fühlt sich überfordert und weiß nicht, wie sie Max dazu bewegen kann, die Hausaufgaben direkt nach der Schule zu erledigen. 

SORKC-Modell 

  • S: Nach dem Mittagessen und einer Pause soll Max seine Hausaufgaben machen. Max will aber direkt nach der Schule erst einmal seine Ruhe haben und nichts von Hausaufgaben wissen. 
  • O: Die Mutter befürchtet, dass Max die Hausaufgaben wieder ewig hinauszögern wird und mit dieser Verzögerungstaktik versucht, um sie herumzukommen. 
  • R: Die Mutter fühlt sich verantwortlich dafür zu sorgen, dass Max seine Hausaufgaben so zügig, wie sein Bruder, erledigt und ermahnt ihn deshalb mehrmals. 
  • K: Max wird immer dann ärgerlich wenn die Mutter häufig nachschaut, ob er seine Hausaufgaben auch tatsächlich macht. 
  • C: Je häufiger die Mutter nachschaut und Max vorhält, er sei langsamer als sein Bruder, umso ärgerlicher wird er und desto länger zieht sich die Erledigung der Hausaufgaben hin. Die Kontrolle und die Vergleiche verstärken also von der Mutter unerwünschtes Verhalten, das sie aber selbst provoziert. 

Etwas Anderes stellt sich die Situation in der klientenzentrierten Beratung und den neueren Beratungsansätzen dar (Systemische Beratung, Ressourcen- oder Lösungsorientierter Beratung).

Carl Rogers (1992) postulierte, ausgehend von dem Ansatz der humanistischen Psychologie, dass jeder Ratsuchende bereits alles zu seiner Problemlösung Notwendige in sich habe und selbst am besten in der Lage sei, seine persönliche Situation zu analysieren und Lösungen für seine Probleme zu erarbeiten. Hier hat der Beratende durch die „Grundfesten“ der klientenzentrierten Beratung nur noch die Machtquelle der Identifikationsmacht zur Verfügung, die er sich mit Echtheit, Empathie und bedingungsloser positiver Wertschätzung erarbeitet hat.

In der Diskussion über Beratungsansätze haben Belohnungsmacht (reward power) und Sanktionsmacht (coercive power) eigentlich nie eine Rolle gespielt. Nur innerhalb der neueren systemischen Ansätze wurde das deutliche Loben der Klienten bisher thematisiert. Ob Loben oder das Entziehen von Lob eine Auswirkung auf den Beratungsprozess haben kann, bleibt empirisch noch zu klären. Allerdings bleibt fest zu halten, dass es innerhalb des Beratungsprozesses auch darum gehen muss, gemeinsame mentale Modelle über Macht zu erarbeiten. 


Aufgabe Ü.02.06: Diskutieren Sie im Forum: 

  • Wie könnte der Berater die verschiedenen Arten von Macht im oben genannten Beispiel einsetzen und ist die jeweilige Art der Machtausübung mit den Grundhaltungen von Rogers vereinbar?
  • Welche Rolle könnte Macht in der Beratungssituation noch spielen und welche Konsequenzen können sich daraus z.B. für die „Problemlösung“ ergeben?
  • Hat, ihrer Meinung nach, Belohnungsmacht und Sanktionsmacht einen Einfluss im Beratungsprozess und wenn ja, welchen?
Hier kommt ihr direkt zum Forum.