5. Macht

5.2. Anwendung: Macht und Führung


Die Abgrenzung der Kostrukte Macht und Führung gestaltet sich als schwierig: Zunächst ist festzustellen, dass jemand andere Menschen nur dann führen kann, wenn er über geeignete Machtmittel verfügt.

In eigenschaftstheoretischen Ansätzen würden sich die Machtquellen alleine auf die Identifikationsmacht (referent power) nach French & Raven (1959) beschränken. Mit besonderen Eigenschaften ausgestattete Führer könnten diese einsetzen, um Geführte (Untergebene) zu führen.

In verhaltensorientierten Theorieansätzen müssten sehr viel mehr Variablen von vorne herein definiert sein. Welches Verhalten kann welcher Führer zu welcher Situation ausführen, das zum gewünschten Erfolg führen wird?

Besonders interessant wird es bei transaktionellen und transformationalen Führungsansätzen.

Welche Transaktionen und welche Transformationen kann der Führer den Geführten bieten und sind diese für die Geführten attraktiv bzw. motivierend?

Gerade hier muss der Führer ein sehr genaues mentales Modell über seine Gruppenmitglieder haben.

Mangelnde Evaluation gehört auch zu den Folgen von Groupthink-Phänomenen. Welche Faktoren für das Auftreten von Gruppendenken in einer Selbsthilfegruppe begünstigen, soll im Folgenden dargestellt werden. 

Beispiel B.02.21: Die Rede König Heinrichs V. vor der Schlacht bei Azincourt

WESTMORELAND. O wenn wir nun doch nur zehntausend von jenen Männern in England hier hätten, die heute keine Arbeit tun!

KÖNIG HEINRICH. Was ist er, der das wünscht? Mein Vetter Westmoreland? Nein, mein edler Vetter: Wenn wir dazu bestimmt sind zu sterben, sind wir genug, [20] um unserem Land Verlust zuzufügen; und wenn zu leben, je weniger Männer, umso größer der Anteil der Ehre. Gottes Wille! Ich bitte dich, wünsche nicht einen Mann mehr. Bei Jupiter, ich bin nicht gierig nach Gold, noch kümmere ich mich darum, wer auf meine Kosten sich ernährt; [25] es bringt mir nichts ein, wenn Männer meine Kleidung tragen; solch äußere Dinge wohnen nicht in meinen Wünschen: Aber wenn es eine Sünde ist, Ehre zu erstreben, bin ich die sündigste Seele, die lebt. Nein, beim Glauben, mein Vetter, wünsche nicht einen Mann von England: [30] Gottes Frieden! Ich wünschte nicht, so viel Ehre zu verlieren, wie ein Mann mehr, glaube ich, mit mir teilen würde, denn ich habe die beste Hoffnung. O wünsche nicht einen mehr! Eher rufe es aus, Westmoreland, in meiner ganzen Heerschar, dass derjenige, der keinen Mut hat zu diesem Kampf, [35] zurückkehren kann; sein Pass soll ausgestellt und Kronen zum Geleit in seine Börse gesteckt werden: Wir wünschten nicht, in der Gesellschaft desjenigen Mannes zu sterben, der fürchtet, seine Kameradschaft könne mit uns sterben. Dieser Tag wird das Fest des Crispian37 genannt: [40] Wer diesen Tag überlebt und sicher heimkommt, wird auf Zehenspitzen stehen, wenn dieser Tag genannt wird, und sich erheben bei dem Namen Crispian. Wer diesen Tag sehen wird und bis ins hohe Alter lebt, wird jährlich am Vorabend seine Nachbarn bewirten [45] und sagen: »Morgen ist Sankt Crispian.« Dann wird er seinen Ärmel hochstreifen und seine Narben zeigen und sagen: »Diese Wunden erhielt ich am Crispianstag.« Alte Männer vergessen; wenn auch alles vergessen sein soll, wird er aber mit leichten Übertreibungen sich daran erinnern, [50] welche Taten er an jenem Tag vollbrachte. Dann sollen unsere Namen, seinem Mund vertraut wie Haushaltswörter, Harry der König, Bedford und Exeter, Warwick und Talbot, Salisbury und Gloucester, in ihren überfließenden Bechern frisch erinnert werden. [55] Diese Geschichte soll der gute Mann seinen Sohn lehren; und Crispin Crispian soll niemals vergehen, von diesem Tag bis zum Ende der Welt, ohne dass unser an ihm gedacht wird. Wir wenigen, wir glücklichen wenigen, wir Schar von Brüdern; [60] denn wer heute sein Blut mit mir vergießt, soll mein Bruder sein; sei er noch so niedrig, dieser Tag soll seinen Stand adeln; und Edelleute, die jetzt in England zu Bett sind, sollen sich selbst für verflucht halten, dass sie nicht hier waren, [65] und ihre Männlichkeit billig halten, wenn irgendjemand spricht, der mit uns am Sankt-Crispianstag kämpfte.

(Shakespeare, 2019, S. 185,187,189)

Die Rede, die Shakespeare hier Heinrich V. in den Mund legt ist ein rhetorisches Meisterwerk und ein Höhepunkt der angewandten Psychologie. Auf die St. Crispins-Tag- Rede wird im Anglo-amerikanischen Kulturraum besonders oft Bezug genommen, wenn es darum geht, eine begrenzte Personenzahl für eine besondere Herausforderung zu motivieren oder zu belohnen. So nimmt der Titel der amerikanischen Fernsehserie Band of Brothers (Frankel et al, 2001) ebenso auf diese von Shakespeare verfasste Ansprache Bezug, wie das Zitat We few, we happy few, we band of brothers in einem Fenster der Westminster Abbey, das den Anstrengungen der Royal Air Force während der Luftschlacht um England gewidmet ist. Allerdings war auch der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ein großer Verehrer von Shakespeares Werken. In seiner Sportpalastrede („Wollt ihr den totalen Krieg?“) vom Herbst 1942 folgte Goebbels in auffälliger Weise dem Duktus der St. Crispins-Tag-Rede aus Heinrich V. 

Aufgabe Ü.02.03: Versuchen Sie auf der Basis von Transaktions- und Transformationsprozessen die Rede Heinrich V zu analysieren.

  • Was bietet Heinrich V. seinen Gefolgsleuten für ihre Teilnahme an der Schlacht?
  • Auf welche Befürchtungen geht er ein?
  • Welche Hoffnungen nimmt er auf und wie verstärkt er sie?
  • Was „droht“ jemanden, der jetzt aufsteht und sagt „Ach, das hatte ich mir anders vorgestellt!“

Diskutieren Sie im Forum, ob und warum eine solche Rede heute nicht mehr funktionieren würde. Hier kommt ihr direkt zum Forum.

Exkurs E.02.01: Trumps Rhetorik

Nachdem Donald Trump zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, sprach er am nächsten Tag in seiner Siegesrede zu der Nation. Das folgende Video zeigt einen kurzen Zusammenschnitt der Rede. (Den Text seiner gesamten Rede kann hier nachgelesen werden: https://edition.cnn.com/2016/11/09/politics/donald-trump-victory-speech/index.html)

Video V.02.02: Siegesrede von Trump


([Express & Star], 2016, 9. November)

Die Rede von Trump (2016) zeigt, dass er es versteht mit Sprache umzugehen. Er erzeugt mit wenigen Sätzen ein fesselndes Gefühl und greifbare Emotionen, die stärker sind als jedes faktenbasierte Argument. Wie erreicht er das? 

    • In seinen Reden verwendet er hauptsächlich kurze Sätze, die eine leicht zu verstehende Botschaften vermitteln. In seiner Siegesrede schließt er mit den Sätzen: „Es ist mir eine Ehre. Es war ein unglaublicher Abend, es waren unglaubliche zwei Jahre. Und ich liebe dieses Land.“ ab. Eine Analyse der Carnegie Mellon University in Pittsburgh kam zu dem Ergebnis, dass Trumps grammatisches Niveau unter dem eines Sechstklässlers liegt. Nur ein ehemaliger amerikanischer Präsident schnitt noch schlechter ab: George W. Bush (Schumacher & Eskenazi, 2016). Unter diesem Link findet ihr die Studie: https://arxiv.org/pdf/1603.05739.pdf  .
    • Trump unterscheidet in Ingroup und Outgroup. Er spricht von „wir“, „die Amerikaner“ und „unserem Sieg“ und schließt damit alle Zuhörer ein, ein Teil einer „großartige Bewegung von Millionen hart arbeitender Männer und Frauen“ zu sein. Er vermittelt, noch deutlicher in anderen Reden, das Bild, dass seine Wählerschaft die richtige Sicht auf die Welt hat und die Anständigen sind. Anderen Personen und Nationen zeigen demnach nicht erwünschte Einstellungen und Verhalten. Dem ersten Anschein nach klingt seine Rede fast inklusiv, aber im Grunde entscheidet Trump wer zu dem „Volk“, von dem er spricht, dazu gehört und wer nicht.
    • Er verwendet ausschmückende Adjektive, um Emotionen in dem Zuhörer auszulösen. Trump verspricht seinen Anhängern eine „bessere, leuchtende Zukunft“ und fordert sie auf „groß und kühn und gewagt (zu) träumen“. 
    • Inhaltlich ist Trump ein Meister darin mit seinen Worten Unwahrheiten zu erzählen. Die Lügen bleiben so lange aufrechterhalten und somit Wahrheit im öffentlichen Raum, bis sie enttarnt wurde und durch eine neue Lüge von ihm ersetzt werden. 

Aufgabe Ü.02.04: Wie und warum wirkt diese Rede? Könnt ihr noch andere sprachliche Auffälligkeiten feststellen? Was unterscheidet sie von der Rede Heinrich V? Diskutieren Sie im Forum. Hier kommt ihr direkt zum Forum.