Poetischer Realismus (Buch)
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Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888)
Fantastik im Schimmelreiter
Auch die Geschichte der zweiten Erzählebene können wir sofort verorten, nämlich im „dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts“ (gemeint ist das 19. Jahrhundert), an einem Oktobernachmittag während eines Unwetters in Nordfriesland. Das Realistische Erzählen funktioniert wunderbar. Doch wie sieht es nun aus, wenn das Fantastische dazu kommt?
Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. Wer war das? Was wollte der? – Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren! (Zitiert nach Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Braunschweig 1990, 6)
Auch die Spukerscheinung trügt das realistische Erzählverfahren nicht, ganz im Gegenteil: die genaue Beschreibung der Gestalt trägt zu einem realistischen Eindruck bei. Auch hier wird ein bekannter kultureller Code angesprochen, wenn auch ein nicht ganz so geläufiger. Der unheimliche Reiter, in manchen Erzählungen auch der kopflose Reiter, ist ein uns bekanntes kulturelles Motiv. Die äußere Erscheinung des Schimmelreiters (dunkler langer Mantel, brennende Augen, Geräuschlosigkeit) können wir problemlos diesem Schema zuordnen.
Die Auslagerung des Übernatürlichen in die Rahmenhandlung bzw. in eine nur mündlich überlieferte, in der Vergangenheit liegende Geschichte, entzieht den fantastischen Elementen die direkte Einflussmöglichkeit auf die Handlung der Geschichte, sodass der Text für sich trotzdem eine mimetische Darstellung der Wirklichkeit bleibt. Einzig die Titelfigur, nämlich der Schimmelreiter, zieht sich als Verbindungselement durch alle Erzählebenen.