Realistische Erzählverfahren in Geschichte und Gegenwart

Um die unterschiedlichen Pole und Verfahren Realistischen Erzählens zu verdeutlichen, sollen hier noch ein paar Textbeispiele aus verschiedensten Epochen angeführt werden, die Ihnen im Verlauf des Kurses begegnen werden. Welche realistischen Erzählverfahren es gibt und in welcher Epoche diese besonders ausgeprägt vorkommen – das wollen wir in diesem Kurs gemeinsam genauer erarbeiten.

Der Poetische Realismus ist, wie im Namen schon vorweggenommen, eine realistische Strömung. Als Beispiel aus dieser Epoche haben Sie schon den Romananfang von Kellers Kleider machen Leute (1874) kennengelernt. Geprägt ist der Poetische Realismus durch eine besondere Verflechtung metonymischer und metaphorischer Textverfahren, die – wie der Epochenname bereits verrät – einerseits realistische, andererseits aber auch poetische Literatur hervorbringen soll. 

Der Realismus der Neuen Sachlichkeit mit Bezügen zu den Medien und zum Journalismus spiegelt sich u.a. im Romananfang von Joseph Roth's Hotel Savoy (1924) wieder: „Ich komme um zehn Uhr vormittags im Hotel Savoy an.“ Hier wird die Welt nicht zertrümmert oder konstruiert, wie es in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts beliebt war, sondern mit den gewohnten realistischen Mitteln schlicht wiedergegeben: die lokale und temporale Verortung der Diegese wird im ersten Satz klar und deutlich dargelegt in journalistischer Manier – auch das ist eine Form des Realismus.

Auch in der Nachkriegsliteratur herrschen realistische Erzählverfahren vor, wobei hier die Materialität des Textes und das Medium der Vermittlung eine besondere Rolle spielen. Typisch ist schließlich die Kurzgeschichte, hier beispielweise der Anfang von Wolfgang Borcherts Das Brot (1947): „Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen.“ (Zitiert nach Borchert, Wolfgang: Das Brot [1947]. In: ders.: Das Gesamtwerk. Hg. v. Bernhard Meyer-Marwitz. Hamburg 1949, 277-279, hier: 277). Auch hier finden Sie unverkennbar ein realistisches Erzählverfahren wieder. 

In der Pop-Literatur der 1990er Jahre wird der Realismus gerne durch Erwähnungen popkultureller Accessoires und Marken unterstützt. Um nur ein Beispiel für diese Art realistischer Textverfahren zu nennen: „Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.“ (Zitiert nach Kracht, Christian: Faserland. Roman. [1995]. Köln 2010, 13). So lautet der Beginn von Christian Krachts Faserland (1995), dem Gründungsphänomen der deutschen Pop-Literatur. Auch hier schieben sich keinerlei störende Textverfahren zwischen Lesen und Verstehen. Das Zitieren und teilweise auch Parodieren der Wirklichkeit, die durch Werbung, Medien, Tradition etc., eben gerade popkulturell immer schon vorcodiert ist, trägt zum besonderen realistischen Erzählverfahren der Pop-Literatur bei.

In der Gegenwartsliteratur lässt sich insgesamt eine deutlich erkennbare Tendenz zu realistischen Erzählverfahren feststellen: „Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum ersten Mal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teilzunehmen.“ So beginnt Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005). Auch hier erhalten wir sofort die zeitliche und räumliche Einordnung und eine erste Beschreibung des Protagonisten, wir verstehen, worum es geht. Zwar sind die Angaben bei weitem nicht so detailliert wie etwa in Hotel Savoy, doch auch hier liegt ein realistisches Erzählverfahren vor.