Eine Vielzahl neuerer Romane in den ost-/mitteleuropäischen Literaturen befasst sich mit geschichtlichen Themen. Bei dieser „Obsession mit der Vergangenheit“ (Matthias Schwartz) handelt es sich nicht um eine selbstverständliche Gedächtniskultur, sondern – mit Marianne Hirschs Begriff aus den Holocaust-Studien – um ‚Postmemory‘, d.h. das Erinnern Nachgeborener anhand von Dokumenten, Fotografien, Familiengeschichten. In diesem Seminar wollen wir drei ost-/mitteleuropäische Romane aus der jüngsten Vergangenheit besprechen: Zabuttja (2016; übers. als Der Blauwal der Erinnerung, Kiepenheuer & Witsch 2019) der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljarčuk (geb. 1983 in Ivano-Frankivs′k); Krasnyj krest (2017; übers. als Die roten Kreuze; Diogenes 2020) des belarussischen Schriftstellers Saša Filipenko (geb. 1984 in Minsk) und Przewóz (2021, übers. als Die Grenzfahrt, Suhrkamp 2023) des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk (geb. 1960 in Warschau).
Stasiuks Przewóz spielt im Jahr 1941 im okkupierten, zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion aufgeteilten Polen und handelt von Fluchtversuchen über den Fluss Bug. Zugleich webt der Erzähler ein, wie er mit seinem vergesslichen Vater den Schauplatz des Romans bereist – das Dorf von dessen Kindheit. Filipenkos Krasnyj krest verbindet ebenfalls das Jahr 1941 mit einer Begegnung in der Gegenwart: Eine alte, an Gedächtnisverlust leidende Frau in Minsk schildert ihrem neuen Nachbarn, dem Ich-Erzähler, ihre Geschichte als Übersetzerin von Kriegsgefangenen-Listen in Stalins Außenministerium. Maljarčuks Zabuttja bezieht sich auf die Entdeckung einer nationalgeschichtlichen Figur durch die Ich-Erzählerin: Während einer Depression wird sie auf den polenstämmigen ukrainischen Politiker und Historiker V′jačeslav Lypyns′kyj/Wacław Lipiński (1882–1931) aufmerksam und beginnt anhand von Archivdokumenten dessen Engagement für die ukrainische Sache zu rekonstruieren und imaginieren – und sie so der „Vergessenheit“ (zabuttja) entziehen.
In dem Seminar wollen wir über die Erinnerungsfunktion von Literatur nachdenken, künstlerische Verfahren der Verschränkung von Geschichte und Intimität analysieren und uns auch in den dargestellten historischen Situationen genauer orientieren. Schließlich werden wir uns auch fragen, inwiefern der russische Krieg gegen die Ukraine unsere Wahrnehmung dieser Romane aus den Jahren 2016, 2017 und 2021 beeinflusst.
Scans der Originale und der Übersetzungen werden auf VC zur Verfügung gestellt. Allen, die die Möglichkeit haben die Übersetzungen anzuschaffen, wird dies empfohlen; sie sind im Buchhandel gut greifbar.
Stasiuks Przewóz spielt im Jahr 1941 im okkupierten, zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion aufgeteilten Polen und handelt von Fluchtversuchen über den Fluss Bug. Zugleich webt der Erzähler ein, wie er mit seinem vergesslichen Vater den Schauplatz des Romans bereist – das Dorf von dessen Kindheit. Filipenkos Krasnyj krest verbindet ebenfalls das Jahr 1941 mit einer Begegnung in der Gegenwart: Eine alte, an Gedächtnisverlust leidende Frau in Minsk schildert ihrem neuen Nachbarn, dem Ich-Erzähler, ihre Geschichte als Übersetzerin von Kriegsgefangenen-Listen in Stalins Außenministerium. Maljarčuks Zabuttja bezieht sich auf die Entdeckung einer nationalgeschichtlichen Figur durch die Ich-Erzählerin: Während einer Depression wird sie auf den polenstämmigen ukrainischen Politiker und Historiker V′jačeslav Lypyns′kyj/Wacław Lipiński (1882–1931) aufmerksam und beginnt anhand von Archivdokumenten dessen Engagement für die ukrainische Sache zu rekonstruieren und imaginieren – und sie so der „Vergessenheit“ (zabuttja) entziehen.
In dem Seminar wollen wir über die Erinnerungsfunktion von Literatur nachdenken, künstlerische Verfahren der Verschränkung von Geschichte und Intimität analysieren und uns auch in den dargestellten historischen Situationen genauer orientieren. Schließlich werden wir uns auch fragen, inwiefern der russische Krieg gegen die Ukraine unsere Wahrnehmung dieser Romane aus den Jahren 2016, 2017 und 2021 beeinflusst.
Scans der Originale und der Übersetzungen werden auf VC zur Verfügung gestellt. Allen, die die Möglichkeit haben die Übersetzungen anzuschaffen, wird dies empfohlen; sie sind im Buchhandel gut greifbar.
- Moderator/in: Eugeniya Ershova
- Moderator/in: Christian Zehnder
Semester: 2024 Sommersemester