Das Seminar untersucht einige beispielhafte Werke einer bedeutenden Dimension der russischen Literatur: die Erfahrung der Straflager. In unterschiedlichen Epochen, sei es im 19. Jahrhundert oder in der Sowjetzeit, prägte die Erfahrung der russischen Straflager die Kreativität dorthin verbannter (teils auch besuchender) Schriftsteller, Intellektueller und Dissidenten in besonderem Maße. Viele Werke dieser Gattung sind inhaltlich nicht nur von einer Beschreibung der Brutalität und Unmenschlichkeit der Strafe und der Entbehrungen des Lagerlebens gekennzeichnet, sondern vor allem auch durch philosophische und moralische Überlegungen und Erkenntnisse der Autoren über die menschliche Natur jenseits ihrer Kritik am jeweiligen politischen System. Dazu gehört auch die unerwartete Erfahrung von Menschlichkeit inmitten des Unrechts. Da sich die Lagerliteratur oft durch eine Mischung von Fiktionalität, Memoir und Autobiographie auszeichnet, werden auch gattungsspezifische Aspekte erörtert. Aufgrund ihrer herausragenden Bekanntheit werden voraussichtlich die folgenden drei Autoren und Werke behandelt:

- Fjodor Dostojevskij, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Zapiski iz mertvogo doma, 1861/62)
- Anton Čechov, Die Insel Sachalin (Ostrov Sachalin, 1893/94)
- Aleksandr Solženicyn, Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič (Odin den Ivana Denisoviča, 1962)

Anpassungen an dieser Auswahl sind aber je nach Interessenslage der Studierenden möglich; Autorinnen können prinzipiell auch behandelt werden, aber sind weniger bekannt und seltener in deutscher Übersetzung vorhanden. Um den Zugang zum Seminar nicht zu eng zu halten, wird überwiegend mit deutschen Übersetzungen gearbeitet werden.
Semester: 2022 Sommersemester