Methodenkritik und Kritisches Lesen
Semester: 2020/21 Wintersemester
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Semester: 2020/21 Wintersemester
Was ist der Mensch?
Semester: 2020/21 Wintersemester
Theoretische Psychologie?
Dietrich Dörner
Was ist „Theoretische Psychologie“? Nun, da gibt es eine einfache Antwort: eine „Theoretische Psychologie“ gibt es gar nicht! – Aber eine „Theoretische Physik“ gibt es. Sie betrifft die Grundbausteine der Materie, also die Atome, die Kernteilchen, aus denen Atome bestehen, und die Grundkräfte, zum Beispiel die Schwerkraft oder die magnetische Kraft usw. – Und wofür braucht man das? Nun, wenn man zum Beispiel irgendetwas braucht, was in der Natur nicht vorkommt, zum Beispiel Bier oder Tabletten gegen Kopf-schmerzen, die man braucht, wenn man zuviel Bier getrunken hat, dann kann uns der Chemiker sagen, wie man das alles herstellen kann. Und er weiß das, weil die Physiker herausgefunden haben, auf welche Art und Weise sich Atome zu neuen Molekülen zusammenbauen lassen. Die Theo-retische Physik bringt also Freiheit!
Die Psychologen sind stolz darauf, dass ihre Wissenschaft eine „Empirische Wissenschaft“ ist. Denn das unterscheidet die moderne Psychologie von dem alten dunklen Geraune um die „Seele“. „Die Psychologie muss zur Wissenschaft werden!“, meinte John Watson im Jahre 1913. Und das Merkmal der einzigen vernünftigen Wissenschaften, der Naturwissenschaf-ten, ist, dass sie empirisch vorgehen.
„Empirisch“ ist nicht „theoretisch“! Und Theorien brauchen wir auch nicht meint Watson. Da denkt man sich ja etwas aus! Das sind „fictions“, Spinne-reien. Das Einzige, worauf wir vertrauen können, ist das, was wir sehen bzw. hören können. – In der Tat gibt es in der Welt – wenn ich richtig infor-miert bin – nur ein Institut für Theoretische Psychologie, dass sich an einer kanadischen Universität befindet. Und es gibt (angeblich) eine Zeitschrift „Theoretical Psychology“, aber das weiß ich gar nicht so genau. – Was heißt Empirische Psychologie? Die „empirischen Psychologen“ sind der Ansicht, dass der Zugewinn an Wissen in der Psychologie allein dadurch geschehen darf, dass man Fakten sammelt. Fakten kann man sehen! Am meisten gepriesen wird in diesem Zusammenhang die „experimentelle Me-thode“, mit der man kontrolliert untersucht, wie welche „Faktoren“ mit be-stimmten „Verhaltensweisen“ (bevorzugt die Betätigung von Tasten von Versuchsapparaturen) zusammenhängen.
Viele Leute sind mit einer solchen Psychologie heute überhaupt nicht mehr zufrieden. Die derzeitige Präsidentin der APS, (Association of Psychological Science) Lisa Feldman Barrett, meinte neulich „Burn it down!“ (und meinte damit die „moderne“ Psychologie). Allerdings schränkte sie das dann wieder etwas ein und meinte, dass man vielleicht nicht alles niederbrennen sollte. Was sind die Gründe dafür, dass eine renommierte Psychologieprofessorin, zur Brandstiftung aufruft?
Sehen Sie sich einmal folgendes Ergebnis an, welches gerade jetzt im Sep-tember von der APS als herausragendes Ergebnis der Forschung in der Psychologie, als aktuelles „Research-Spotlight“, gefeiert wurde:
Joshua M. Tybur, Debra Lieberman, Lei Fan, Tom R. Kup-fer, and Reinout E. de Vries Psychological Science
People may engage in infection-prone acts with people they va-lue, such as friends and likable strangers. Three studies indicate that individuals are more comfortable with acts that can expose them to infection (e.g., touching a handkerchief someone used to blow their nose) when interacting with someone they know and like or someone they don't know but perceive as honest and agreeable than with someone they know and dislike or a stran-ger they perceive as dishonest or disagreeable. These findings suggest that individuals are more comfortable with exposure to pathogens from people they value, potentially leading to behavi-or that can help to spread infections.
Hätten Sie sich das gedacht? Nie im Leben! Völlig überraschend! Und so rele-vant in Corona-Zeiten! Sauber untersucht das Ganze! Direkt drei Studien! Das hat gekostet! Aber das war das Geld wert!
Oder was halten Sie von folgendem Ergebnis? Auch aus „Psychological Science“ vom September 2020:
People with Blindness Have Refined Spatial Hearing
Psychological Science
Auch das ist ja hoch bedeutsam! Unsere Seele passt sich eben an die jeweiligen Verhältnisse an! Das ist sehr tröstlich zu wissen!
Nun müssen Sie wissen: das sind nicht irgendwelche Forschungsergebnis-se, die wahllos herausgegriffen worden, sondern das sind die „Highlights“, „Research Spotlights“ eben!
So, jetzt haben Sie vielleicht einen kleinen Eindruck davon bekommen, wa-rum Frau Feldman Barrett die Psychologie niederbrennen will. – Wenn Sie wollen, können Sie ja auch einmal nach Untersuchungen fahnden, die die intimeren Regungen der menschlichen Seele betreffen. Über Sexualität finden Sie die Masse. Orgasmushäufigkeiten, Beischlaflänge, usw. Das sind Forschungen, die zum Teil sehr bewundernswert sind, weil man tatsächlich Leute gefunden hat, die bereit waren, einen Beischlaf innerhalb eines Kern-spintomographen durchzuführen. Helden der Wissenschaft! – Aber suchen Sie einmal nach dem Thema „Liebe“! Also: viel finden Sie da nicht und müssen wohl im wesentlichen auf Autoren wie Tolstoi, Tschechow, Thomas Mann zurückgreifen. Aber das ist Literatur! Und mit Wissenschaft hat das ja nun überhaupt nichts zu tun! Allenfalls mit Literaturwissenschaft!
Lassen wir das Lästern und fragen uns lieber, warum die wissenschaftliche Psychologie zwar inzwischen eine mehr als 100-jährige Vergangenheit hat, aber eine nur sehr kurze Geschichte. Denn die Maximen der Psychologie stehen, seit sie von Herrn John Watson im Jahre 1913 erfunden worden sind, fest. Eine Wissenschaft hält sich von jeglicher Spekulation über das Unsichtbare zurück und betreibt lediglich Empirie, erforscht also empirische Zusammenhänge. – So hat es Galileo Galilei gemacht, als er blankpolierte Stahlkugeln schiefe Ebenen hat herunterkullern lassen, um dann zu mes-sen, wie weit sie rollen. Und damit entdeckte Galilei das Fallgesetz! Und das war nun wirklich etwas! Nun konnte man erklären, warum der Mond sich um die Erde dreht und in welcher Weise (nämlich ellipsenförmig), und wie und warum sich die Planeten um die Sonne herum bewegen. Nämlich ge-nauso! Und nun konnte man erklären, warum der Andromedanebel eine solch merkwürdige spiralförmige Struktur hat. Der ganze Kosmos lag der Wissenschaft zu Füßen! Und so müssen wir es auch machen, meinte Watson. Leider übersah er dabei etwas!
Nämlich, dass die Naturwissenschaften Empirie nicht nur deshalb betrieben (und betreiben), um „empirische“ Gesetzmäßigkeiten zu finden, sondern auch, um Theorien aufzustellen.
Im Jahre 1912 schickten die Physiker Bohr und Rutherford Strahlen durch ein fast auf Atomdicke ausgewalztes Goldblech. Und dabei fanden sie merkwürdige Muster. Manchmal gingen die Strahlen anscheinend glatt durch, als wenn da gar nichts wäre. Manchmal aber wurden sie abgelenkt und manchmal sogar zurückgeworfen. – Was sagt uns das nun über die Struktur eines Atoms? In der Wissenschaft liebt man die Maxime „Make it simple!“ Also könnte man vielleicht sagen: „Ein Atom ist ein winzig kleines Stückchen Maschendraht!“ „Oder ein Ring?“ („Ring“ ist zweifellos eleganter als „Maschendraht“!) – Aber Bohr und Rutherford vernachlässigten die oben genannte Maxime. Sie meinten, dass ein Atom ein kleines Sonnensystem sei, in dem kleine Teilchen (Elektronen) einen Kern umkreisen, der wiede-rum aus kleinen Teilchen besteht. Also: das ist ziemlich kompliziert! Vor allem wenn man gerade eben noch angenommen hat, dass das Atom ein unteilbares, winzig kleines Kügelchen sei.
Ist das nicht eine verrückte Idee? Etwas ganz kleines soll so aussehen, wie etwas ganz Großes. Und überhaupt: von „make it simple!“ kann ja hier wohl keine Rede sein. Statt Maschendraht Sonnensystem! Also: Bohr und Ru-therford sind riesengroße Spinner! Ein Atom ist ein Sonnensystem! Gehts noch? Heute würde man sofort von einer Verschwörungstheorie reden! – Nun ja, Sie kennen die Wahrheit; die Idee mit dem Sonnensystem war ein Durchbruch sondergleichen und eröffnete uns immerhin die Möglichkeit, unser Zimmer mit Atomstrom beheizen und unseren Feinden Atombomben auf den Kopf zu schmeißen. (Dummerweise haben unsere Feinde diese Möglichkeit aber auch!)
Und für die Chemiker war das Atommodell von Bohr und Rutherford eben-falls von allergrößter Bedeutung. Endlich verstand man, warum es das ‚Pe-riodensystem der Elemente‘ gibt. Man verstand plötzlich den Zusammen-hang zwischen Chemie und Physik in der Tiefe.
Eine empirische Wissenschaft bezieht sich immer auf einen bestimmten Teilbereich einer Realität. Wenn man zum Beispiel das Verhalten von Rat-ten untersucht, die in einem komplizierten Labyrinth ein Käsestückchen fin-den sollen, so weiß man, wenn man das Verhalten von Ratten in verschie-denen Labyrinthen lange genug untersucht, wie Ratten Labyrinthe „lernen“. Und das kann man vielleicht sogar für Menschen generalisieren! Denn manchmal, wenn wir in einer Großstadt nach einem Ort suchen, von dem wir nur ungenau wissen, wo er ist, verhalten wir uns vielleicht auch ein we-nig wie eine Ratte in einem Labyrinth. Aber hier sieht man schon die Unter-schiede; nach allem, was wir wissen, können sich Ratten nicht befragen und sich gegenseitig über die Beschaffenheit eines Labyrinths aufklären. Ihnen fehlt die Sprache! Sie können ihre Kollegen nicht fragen: „Hören Sie mal, hier muss irgendwo eine Debitel-Filiale sein!? Haben Sie eine Ah-nung?“
Im vergangenen Jahrhundert gehörte zu einem vernünftigen psychologi-schen Labor immer ein Rattenkäfig. Und mit den Ratten fand weitgehend die psychologische Forschung statt. – Ratten sind sehr sympathische Tiere, und es macht Spaß, mit ihnen umzugehen. Aber über die Art und Weise, wie man es erlernt, Differentialgleichungen zu lösen, erfährt man durch die Untersuchung der Lernprozesse von Ratten fast nichts. Und deshalb haben bestimmt viele Millionen von Forschungsarbeiten über Lernprozesse bei Ratten keinerlei Niederschlag gefunden etwa in der Gestaltung des Unter-richts, zum Beispiel um Schülern das Lösen von Differentialgleichungen beizubringen. Und wenn man Differentialgleichungen lösen kann, so heißt das noch längst nicht, dass man damit erlernt hat, wie man Gedichte analy-siert. Denn bei Differenzialgleichungen kann man die Begriffe ernst neh-men. „+“ heißt „+“, und zwar immer! In einem Gedicht hingegen darf man die Begriffe und ihre Bedeutung nicht ernst nehmen; im Gegenteil; wenn man in Brechts ‚Ballade von den Seeräubern liest „… sie liebten nur verfaul-te Planken …“ so liegt man falsch, wenn man meint, dass Brecht uns hier erzählen will, dass die Seeräuber kaputte Bretter lieben. (Was immer in die-sem Zusammenhang ‚lieben‘ heißen mag?!)
Also: die (wahrscheinlich?) Millionen von Experimenten mit Ratten, die das Durchqueren von Labyrinthen unter allen möglichen Umständen (manch-mal mussten sie sogar schwimmen!) lernten, brachten für den Schulunter-richt gar nichts. Auch die Versuche, die Ergebnisse solcher verhaltenstheo-retischer Untersuchungen zum Beispiel therapeutisch nutzbar zu machen, waren nicht so sonderlich erfolgreich. Wenn man beispielsweise Trinkern den Alkohol vergällte, sodass ihnen beim Trinken immer erbärmlich schlecht wurde, erbrachen sie sich doch lieber, als das Saufen sein zu las-sen.)
Also zusammenfassend: bei rein empirischer Forschung gibt es Schwierig-keiten mit der Generalisierung.
Aber es gibt noch mehr Schwierigkeiten mit der „empirischen Psychologie“. Nämlich den Verlust der Details! Wir wollen das anhand eines etwas drama-tischen Beispiels erläutern! Wenn zum Beispiel in einer verlassen wirkenden Straße im Dunkeln ein Mensch mit einem Messer in der Hand auf mich zu eilt, so ist vielleicht der erste Impuls: „Nichts wie weg!“ Aber diesen Impuls folge ich nicht unbedingt. Wenn das ein sehr kleiner Mensch ist, dann werde ich nicht weglaufen, denn damit werde ich dann doch wohl fertig! (Ob ich dieser Meinung bin, hängt von vielen Faktoren ab.) – Und wenn ich mich zu erinnern glaube, gerade eben an jemandem vorbeigegangen zu sein, der eine Filmkamera betätigte, werde ich mir sagen: „Ach so! Die drehen hier einen Film!“ Und ich werde dem Mann mit dem Messer entgegenrufen: „Sehr überzeugend!“
Und selbst wenn ich weglaufe, kann das sehr verschieden geschehen. Wenn sich unmittelbar neben mir ein offener Hauseingang findet, werde ich ins Haus hineinlaufen und die Türe hinter mir zuwerfen. Damit bin ich den Messerhelden erst mal los und finde wahrscheinlich auch schnell ein Tele-fon, wenn ich kein Handy bei mir habe. – Ein anderer aber sieht den offe-nen Hauseingang gar nicht! Weil er in starker Panik ist! Also das, was man in einer eigentlich doch klaren Situation macht, kann je nach den Umstän-den (und dazu gehört auch die „Persönlichkeit“) ziemlich verschieden sein.
Das gilt auch für die psychologische Forschung. Wenn man untersucht, wie sich Menschen bei Problemen in sehr komplexen Situationen verhalten, dann erlebt man nie, dass sich – sagen wir einmal – von 30 Versuchsperso-nen bei ein und demselben Problem auch nur eine genauso verhält wie eine der 29 anderen. Es gibt immer Unterschiede und zum Teil sehr große. Das ist natürlich sehr ärgerlich. Denn eigentlich müsste man jetzt jede Versuchs-person einzeln betrachten! Aber dann kann man ja nicht mehr generalisie-ren! Und wann wird dann die Master-Arbeit fertig? – Also: es reicht doch vollkommen, wenn man feststellt, wie viele der Versuchspersonen „erfolg-reich“ waren und wie viele nicht. Und um das festzustellen, braucht man nicht in die Details zu gehen. Der Ausweg aus der Komplexität des Verhal-tens heißt: Mittelwert und Varianz! Also der Gebrauch der Statistik. Statistik ist die größte vorstellbare Datenvernichtungsmaschine. Als Ergebnis hat man dann die Signifikanz der Mittelwertunterschiede. – Gut, aber das ist doch schon etwas! Dann weiß man, dass viel mehr Leute die Aufgabe A gelöst haben als die Aufgaben B. Gut und schön: und warum ist das so? Das wüsste man vielleicht, wenn man sich die Lösungsprozesse genau an-gesehen hätte. Aber diese genaue Betrachtung hat man ja unterlassen.
Und dann hat man – zusätzlich noch zu den Mittelwertunterschieden – sehr viel von dem, was empirische Psychologen gern als „Irrtumsvarianz“ be-zeichnen. Das ist in den Augen der Experimentatoren so ungefähr das glei-che wie das Rauschen im Radio. Störend!
Faktisch versteckt man aber dahinter den gesamten Einfluss sehr vieler verschiedener Faktoren, der immer bei der Organisation menschlichen Handelns auftritt. Lebewesen sind ganz generell „multistabile Systeme“ und immer bemüht, in ihrer Umgebung vielleicht Faktoren zu entdecken, die ihnen irgendetwas leichter machen oder aber auch für Ärger sorgen könn-ten. Es macht einen großen Unterschied, ob Menschen eine Denkaufgabe lösen müssen, wenn sie zum Beispiel hinsichtlich des Zustandes der politi-schen Umgebung große Besorgnisse haben, als wenn sie diese Besorgnis-se nicht haben.
Vor einigen Jahren spielte in der Psychologie die sogenannte „Reprodukti-onskrise“ eine große Rolle; ein Psychologe aus West Virginia (Brian Nosek) hatte ermittelt, dass bei der Wiederholung von wohlkontrollierten Experi-menten in 64 % der Fälle nicht das herauskam, was vorher herausgekom-men war. Also: über die Hälfte der Ergebnisse der empirischen Psychologie sind falsch! Wenn man „kaufmännisch“ mit diesem Ergebnis umgehen wür-de, müsste man wohl sagen: „macht den Laden dicht!“ – Was war die Ursa-che des Misserfolgs des Reproduktionsversuchs? Manche meinten, dass man die „methodische Schraube“ noch weiter anziehen müsste. Man müss-te die Versuchsbedingungen noch besser kontrollieren, die Instruktion bes-ser abfassen und alles tun, damit in dem Experiment nur das geschieht, was auch geschehen darf, worauf das Experiment ausgerichtet ist. – Dabei be-achtet man nicht, dass das, was Versuchspersonen in einem Experiment tun, keineswegs allein nur von den experimentellen Bedingungen abhängt, sondern vom ganzen Umfeld. Gefühle beispielsweise lassen sich nicht ein-fach als Experimentalbedingungen „setzen“. Sie verändern sich ganz unab-hängig vom Willen des Experimentators. (Man kann beispielsweise ganz leicht erreichen, dass männliche Versuchspersonen, die an einem Denkex-periment teilnehmen, viel besser sind als die weiblichen Teilnehmer. Dafür braucht man nur eine hübsche und charmante Versuchsleiterin!) Aber das sind Faktoren, die harmlos sind, da man sie beobachten kann. Aber die ge-heimen Sorgen der Versuchspersonen aufgrund des jeweiligen Zeitgeistes, der Sorge beispielsweise beim Gedanken an politische Führer wie Donald Trump, können sich im Experiment niederschlagen. Menschen sind eben keine Objekte, die nur von gegenwärtigen Umfeld abhängig sind. Und das heißt, dass die Reduktion des Verhaltens auf die experimentellen Bedingun-gen oft nicht zufriedenstellend gelingt. Irgendetwas lässt sich nicht wieder-holen!
Zusammenfassend: die empirische Ausrichtung, die Verwendung der Statis-tik, der Verzicht auf Theorienbildung, hat die Psychologie nicht wirklich vo-rangebracht.
Sie hat dazu geführt, dass man Dinge untersucht, die eigentlich selbstver-ständlich sind. Sie hat dazu geführt, dass man nur einfache Phänomene untersucht, gewissermaßen einzelne Reiz-Reaktionsketten. Die Tatsache, dass eigentlich an einer komplizierten Handlung alle psychischen Instanzen beteiligt sind, nämlich Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Motive, Emoti-onen, hat man aus den Augen verloren und man hat eine Psychologie an-gestrebt, die eben mehr eine Akkumulation empirische Befunde als eine Integration von Beobachtungen darstellt. Sie hat dazu geführt, dass es in der Psychologie keine klaren Begriffe gibt. Was eigentlich Wahrnehmung wirk-lich ist, was Gedächtnis wirklich ist, was Denken ist, was Emotionen sind, kann man nicht klar sagen.
Zum Beispiel: Man verwechselt Denken mit Sprechen, weil man, wenn man Versuchspersonen „laut“ denken lässt, also alles laut aussprechen lässt, was sie denken, das Denken gewissermaßen sichtbar zu machen glaubt. Dass aber zum Denken auch die Bildung von Vorstellungen gehört, hat man ganz vergessen. Platon meinte einmal: „Dasselbe ist Denken und Sprechen, nur dass das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, das ohne Stimme vor sich geht, Denken genannt worden ist.“ Aber Platon sagte auch noch: "So erkläre dich denn auch einverstanden damit, daß noch ein anderer Werk-mann in uns auftritt ...Ein Maler der nach dem Schreibkünstler die Bilder jener Gespräche in die Seele einzeichnet." Und Einstein sagte sogar: "Wor-te, die geschriebene oder gesprochene Sprache, scheinen in meinem Ge-dankenapparat keine große Rolle zu spielen. Die physischen Gebilde, die als Elemente des Denkens dienen, sind gewisse Zeichen und mehr oder weniger klare Bilder visueller oder auch muskulärer Art." – Und wo in der zeitgenössischen Psychologie finden Sie die Vorstellung? Es gibt sie nicht. Weil man sie, im Gegensatz zu den sprachlichen Elementen des Denkens, nicht sichtbar, also „empirisch“, machen kann.
So, das ist eine kleine Liste der Versäumnisse der bisherigen Psychologie. Man kann sie leicht verlängern.
In dem Seminar werden wir versuchen, den Umriss einer Theoretischen Psychologie zu zeichnen, die alle diese Mängel nicht hat. Wie kann eine Theoretische Psychologie aussehen? Wir beginnen mit einer sehr alten De-finition der Psychologie.
„Die Seele ist ein Steuerungssystem für einen Körper, der dadurch, dass er gesteuert wird, Leben hat.“ – So Aristoteles!
Und wie sieht ein solches Steuerungssystem aus? Nun ja, das ist die Frage, die wir beantworten wollen!
Und wie wollen wir das machen? Auf eine sehr einfache Weise. Wir werden uns auffallende, bedeutsame „Steuerungen“ aussuchen und uns ansehen, wieso das „Steuerungssystem“ Seele auf die Idee kommen kann, so zu steuern, wie das der Fall ist! So nämlich, dass es eigentlich wie eine Fehl-steuerung aussieht. Betrachten wir ein Beispiel:
Der schwedische Historiker Peter Englund meint zum politischen Denken:
Die Wirklichkeit, nun ja. Sie scheint viel mit dem Problem zu tun zu haben. In Wirklichkeit handeln Generale und andere Machthaber zweifellos streng logisch, aber leider bewegen sie sich recht selten in ihr, nämlich der Wirk-lichkeit. Denn sie richten sich niemals nach dem, was wir Wirklichkeit nen-nen, sondern nach einem Bild, das sie sich von ihr gemacht haben. Und das muss ihr nicht einmal ähnlich sein. Was wir Geschichte nennen, entsteht oft aus dieser Inkongruenz. Es geht nicht darum, das Talent der Machthaber zum Selbstbetrug zu verringern, einer traurigen, aber dennoch zutiefst menschlichen Eigenschaft, die nicht mit dem reinen Wahnsinn verwechselt werden sollte. Es geht darum einzusehen, daß auch Phantasien real sind, oder besser gesagt, daß sie zur Wirklichkeit werden. wenn nur jemand fest genug an sie glaubt und es gleichzeitig Institutionen gibt, die mächtig genug sind, sie zu realisieren.
Peter Englund: Die Marx-Brothers in Petrograd, S. 42.
Peter Englund kennt sich in der neueren Geschichte sehr gut aus. Aber das ist ein verheerendes Urteil über das politische Denken. Er meint aber, dass die Nichtberücksichtigung der Realität kein „Ausreißer“ ist, sondern normal.  In der Politik! Wieso kommt unsere ‚Seele‘ dazu, uns in dieser Weise zu steuern?
Andere Beispiele werden folgen! Aber keineswegs solche für das politische Denken. – Ein methodisch einwandfrei eingestellter Psychologe würde ja nun natürlich nachsehen, ob das, was Englund festgestellt hat, auch für ganz junge Politiker zutrifft? Oder für homogen alte Politikergruppen? Oder für politische Gremien, die nur aus Frauen bestehen (im Unterschied zu solchen, die nur aus Männern bestehen). Und kurz vor der Publikation der umfangreichen Erhebungen muss er mit Entsetzen feststellen, dass er kei-ne einzige Eskimogruppe untersucht hat. Also muss er das auch noch nachholen!
Die Auswahl besonderer Fälle zeichnete übrigens Darwin aus, als er seine Evolutionstheorie entwickelte. Er nahm sich seltsame Erscheinungen vor, komische, außergewöhnliche. Keine repräsentativen Stichproben! Keine Mittelwerte! – Warum spinnen alle Spinnen Netze? (Naja, weil es „Spinnen“ sind!) Nur: hier haben wir eine, die spinnt keine Netze, sondern jagt ihre Beute, indem sie mit klebrigen Schleimkügelchen (mit einem Bändchen dran, also gewissermaßen mit „Bolas“) nach Insekten schmeißt. Warum weicht diese Spinne von den Gebräuchen ihrer Ahnen ab? Das war etwas, womit sich Darwin lange beschäftigte. Die repräsentative Spinne interessier-te ihn nicht! – Darwin akkumulierte keine Daten. Und die Bola-Spinnen wa-ren eben nicht repräsentativ für die Spinnen. Darwin hat vielleicht 0.001 % aller Tierarten untersucht und die auch nur sehr unvollständig. Und daraus hat er eine weltbewegende Theorie gemacht.

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Semester: 2020/21 Wintersemester
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Statistik I Seminare A,B,C (BSc Psychologie)
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Statistik Psychologie
Übungsgruppen im Wintersemester
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