Probleme
Website: | Virtueller Campus: eLearning-System der Otto-Friedrich-Universität Bamberg |
Kurs: | Komplexität I (vhb - Demokurs) |
Buch: | Probleme |
Gedruckt von: | Gast |
Datum: | Sonntag, 22. Dezember 2024, 06:58 |
Beschreibung
In diesem Buch lernen Sie was ein Problem ist, woraus Probleme bestehen und was der Unterschied zur einer Aufgabe ist.
1. Problem
Advance Organizer
In diesem Buch lernen Sie:
- Was ein Problem ist, woraus Probleme bestehen und was der Unterschied zu einer Aufgabe ist.
- Was sind Barrieren?
- Was versteht man unter einem Operator?
Keywords
Barriere, Istzustand, Ziel(zustand), NP-Problem, Problemraum, mentales Modell, Suchraum, Operator
1.1. Problemdefinition
Was ist ein Problem?
- „Houston, we have a problem“ (Howard, 1995)
- „Das ist ein richtiges Problemkind“
- “…da liegt das Problem…“
- „Wir haben ein Kommunikationsproblem…“
- „Wir stehen vor dem Problem…“
Das sind alles Formulierungen, die Sie sicher schon mehrmals gehört oder sogar selbst verwendet haben, aber haben Sie sich schon einmal Gedanken darübergemacht, was ein „Problem“ wirklich ist?
Vermutlich eher nicht! Deshalb schauen wir zunächst einmal in den Duden (Duden), dort wird Problem definiert als:
- schwierige [ungelöste] Aufgabe, schwer zu beantwortende Frage, komplizierte Fragestellung
- Schwierigkeit
Auch wenn diese Definition für das (komplexe) Problemlösen, wie wir es in diesem Kurs behandeln wollen, nicht ausreicht, so lässt sie doch eines vermuten: Probleme sind schwierig.
Stellvertretend für viele andere, haben wir einige Definitionen ausgewählt, um wesentliche Merkmale eines Problems zu identifizieren.
1. Die erste Definition stammt von Dörner (1976):
Ein Individuum steht einem Problem gegenüber, wenn es sich in einem inneren oder äußeren Zustand befindet, den es aus irgendwelchen Gründen nicht für wünschenswert hält, aber im Moment nicht über die Mittel verfügt, um den unerwünschten Zustand in den wünschenswerten Zielzustand zu überführen. (Dörner, 1976, S. 10)
2. Eine weitere Definition ist vierzig Jahre älter und wurde von Duncker (1935) formuliert:
Ein ,Problem‘ entsteht z.B. dann, wenn ein Lebewesen ein Ziel hat und nicht ,weiß‘, wie es dieses Ziel erreichen soll. Wo immer der gegebene Zustand sich nicht durch bloßes Handeln (Ausführen selbstverständlicher Operationen) in den erstrebten Zustand überführen lässt, wird das Denken auf den Plan gerufen. Ihm liegt es ob, ein vermittelndes Handeln allererst zu konzipieren. (Duncker, 1935/1974, S. 1)
3. Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichten Lüer und Spada (1990) folgende Problemdefinition:
Ein Problem liegt dann vor, wenn ein Subjekt an der Aufgabenumwelt Eigenschaften wahrgenommen hat, sie in einem Problemraum intern repräsentiert und dabei erkennt, dass dieses innere Abbild eine oder mehrere unbefriedigende Lücken enthält. Der Problemlöser erlebt eine Barriere, die sich zwischen dem ihm bekannten Istzustand und dem angestrebten Ziel befindet. (Lüer & Spada, 1990, S. 256)
4. Tobinski (2017) integriert verschiedene Ansätze in seiner Definiton:
Zu einem Problem gehört immer ein gewünschter Zustand‘ (Hussy, 1984) und somit entsteht das Problem erst in einer gegebenen Situation mit einer bestimmten Zielsetzung eines Organismus oder eines kognitiven Systems (Miller, Galanter & Pribram, 1960; Favre-Bulle, 2001; Fritz & Funke 1995; Funke 2003). Voraussetzung ist es, dass die gegebene Situation (Sα) nicht der gewünschten Situation (Sω) entspricht und eine Überführung (Transformation) im Moment durch eine Barriere verhindert wird (Dörner, 1979; Klix, 1971; Lüer & Spada, 1990; Süllwold, 1969). (Tobinski, 2017, S. 5-6)
Es fällt auf, dass die Autoren jeweils drei Merkmale eines Problems hervorheben:
- einen gegebenen Ausgangszustand
- ein Ziel und
- das Vorhandensein einer Barriere, die verhindert, dass dieses Ziel unter den gegebenen Bedingungen erreicht werden kann.
Probleme versus Aufgaben
Dunckers Definition betont die Bedeutung des produktiven Denkens für das Problemlösen: Probleme zwingen uns neue Lösungswege zu erzeugen. Genau in diesem Punkt unterscheiden sich Probleme und Aufgaben. Die Division von 134 durch 7 stellt für die meisten kein Problem dar, sondern eine Aufgabe. Viele Personen beherrschen seit ihrer Schulzeit ein Rechenverfahren, welches sie auf diese Aufgabenstellung anwenden können. Aufgaben sind demnach geistige Anforderungen, für deren Bewältigung Methoden bekannt sind. Die Lösung einer Aufgabe erfordert reproduktives Denken, d.h. der richtige Lösungsweg muss lediglich aus dem Gedächtnis abgerufen werden.
Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichten Lüer und Spada (1990) folgende Problemdefinition:
Ein Problem liegt dann vor, wenn ein Subjekt an der Aufgabenumwelt Eigenschaften wahrgenommen hat, sie in einem Problemraum intern repräsentiert und dabei erkennt, dass dieses innere Abbild eine oder mehrere unbefriedigende Lücken enthält. Der Problemlöser erlebt eine Barriere, die sich zwischen dem ihm bekannten Istzustand und dem angestrebten Ziel befindet. (Lüer & Spada, 1990, S. 256)
Zusammenfassung
Probleme sind geistige Anforderungen, für deren Bewältigung dem Problemlöser noch keine Methode zur Verfügung steht. Im Kern ist ein Problem durch drei Merkmale gekennzeichnet (Klix, 1971, S. 640, zitiert nach Funke, 2003, S. 20):
- einen Ausgangszustand,
- einen Zielzustand, der vom Ausgangszustand abweichende Merkmale aufweist, und
- eine Barriere, die den unmittelbaren Übergang des Ausgangszustands in den Zielzustand behindert.
Zudem gibt es Probleme, die - selbst wenn es keine Barriere im Sinne der hier vorgestellten gibt - in diesem Universum nicht (optimal) lösbar sind. Unter dem Stichwort NP-Probleme finden Sie eine Auswahl solcher harten Nüsse.
1.2. Barriere
Eine Barriere steht bei einer Aufgabe und/oder einem Problem zwischen dem unerwünschten Anfangszustand und dem erwünschten Endzustand. Sie verhindert die erwünschte Transformation von einem (unerwünschten) Ist- oder Startzustand zu einem (erwünschten) Zielzustand.
Eine Möglichkeit, diese Hindernisse zu klassifizieren, schlägt Dörner (1979) vor:
- Interpolationsbarriere
- Synthesebarriere
- Dialektische Barriere
Dörner (1979) unterscheidet die Barrieren nach dem Bekanntheitsgrad der Mittel und der Klarheit der Zielkriterien. Bei der Interpolationsbarriere sind Mittel und Ziele bekannt (nur die richtige Anwendung der Mittel noch nicht). Bei der Synthesebarriere sind die Ziele klar, die Mittel nicht. Bei der dialektischen Barriere sind nicht einmal die Zielkriterien klar.
Beispiel B.01.01: Problem vs. Aufgabe
Stellen Sie sich die beiden folgenden Szenarien vor:
- Sie sind Angestellte:r in einem Unternehmen (vielleicht sogar im Automotive-Bereich), haben aber von der Technik und Funktionsweise eines Autos keine Ahnung. Eines Tages merken Sie, dass der Motor irgendwie unrund läuft. Wie man es heutzutage macht, holen Sie Ihr Smartphone raus und fangen an zu googeln. Das Ergebnis: Vermutlich sind die Zündkerzen defekt und müssen getauscht werden. Und jetzt?
- Sie sind KFZ-Mechaniker:in und Kundschaft kommt zu Ihnen in die Werkstatt und möchte die Zündkerzen getauscht bekommen. Und jetzt?
Abb. A.01.01: Problem vs. Aufgabe
In Szenario 1 haben sie ein richtiges Problem! Klar, Sie können sich ganz im Sinne der DIY-Bewegung im Internet anschauen, wie man Zündkerzen wechselt, aber sie haben weder Ersatzzündkerzen, noch das passende Werkzeug und haben auch keine Erfahrung in der Autoreparatur. Dadurch kennen Sie zwar den Anfangs- und Zielzustand, aber Ihnen fehlen die entsprechenden Mittel und die Kompetenz. Man spricht hier auch von einer Synthesebarriere. In Szenario 2 schaut es dagegen schon ganz anders aus: Sie haben vermutlich bereits hunderte oder gar tausende Zündkerzen gewechselt, Sie wissen also wo und wie sie aus- und einzubauen sind, woran man erkennt, ob sie verbraucht sind, haben Ersatz und auch das richtige Werkzeug. Und dadurch ist es für Sie auch kein Problem, sondern eine Aufgabe.
Wie am Beispiel B.01.01 gut zu erkennen ist, sind Barrieren also offensichtlich auch abhängig von der problemlösenden Person selbst. Sobald die Sache etwas komplexer wird, haben Sie es praktisch immer mit einer Mischung verschiedener Barrieretypen zu tun. In einem Teil des Problemraums sind die Ziele vielleicht noch völlig unklar; in einem anderen Teil kennen Sie wenigstens schon Mittel und Ziele.
„Der Begriff des „Problemraums“ ist auf Newell u. Simon (1972) zurückzuführen, der die subjektive Repräsentation eines Problems und dessen Lösung, einschließlich aller ‚Zwischen‘-Zustände und aller relevanten Prozesse umfasst.“ (Tobinski, 2017, S. 50)
1.2.1 Interpolationsbarriere
Nach Dörner (1976) ergeben sich die grundlegenden Problemtypen aus einer Betrachtung der Barrieren, die den Übergang eines Ausgangszustandes (Sα) in einen erwünschten Zielzustand (Sω) verhindern. Unabhängig von einem bestimmten Anwendungskontext spielt das Wissen über die verfügbaren Mittel und das Wissen über die angestrebten Ziele für das Problemlösen eine entscheidende Rolle.
Beispiel B.01.02: Einen Rührkuchen backen
Angenommen Knut möchte für seine Lerngruppe einen Rührkuchen backen. Die erforderlichen Gerätschaften und Zutaten findet er in der WG-Küche. Er ist dennoch ratlos: "Wo ist das Rezept, das mir sagt in welcher Dosierung und in welcher Reihenfolge diese Gerätschaften und Zutaten zum Einsatz kommen sollen?"
Welche Barriere hält Knut davon ab, einen Rührkuchen zu backen? Er verfügt prinzipiell über die erforderlichen Mittel, um die Unterschiede zwischen dem wohldefinierten Ausgangszustand (Eier, Milch, Backtriebmittel, Mehl, usw.) und dem Zielzustand (Rührkuchen) zu beseitigen. Trotzdem handelt es sich hier nicht um eine Aufgabe, da Knut kein Rezept aus dem Gedächtnis abrufen kann und es für ihn unmöglich ist bis zum Eintreffen seiner Kommilitonen, alle denkbaren Zutatenkombinationen, Ofentemperaturen und Backzeiten hinsichtlich ihrer Eignung für die Rührkuchenherstellung zu prüfen.
Bei Problemen, die klare Zielkriterien, einen wohldefinierten Ausgangszustand und die erforderlichen Mittel aufweisen, besteht die Barriere darin, eine zielführende Kombination oder eine zeitliche Abfolge von bekannten Mitteln zu finden. Probleme, die diese Merkmale aufweisen, bezeichnet Dörner als Probleme mit einer Interpolationsbarriere.
Charakteristika von Interpolationsbarrieren:
- Anfangszustand ist bekannt
- Zielzustand ist bekannt
- Mittel sind bekannt
- Die richtige Kombination oder Reihenfolge der Mittel ist unbekannt
Beispiel B.01.03: Das Unglück der Costa Concordia
Es ist Freitag, der 13. Januar 2012, gegen 21:45 Uhr. Für die 4229 Menschen an Bord der Costa Concordia endet die erst vor wenigen Stunden begonnene Mittelmeerkreuzfahrt abrupt. Das Schiff, auf dem sie sich befinden, gerät zu nahe an einen Felsen vor der Insel Giglio und wird linkseitig auf einer Länge von etwa 70 m von diesem aufgerissen. Es ist in Folge der Kollision nicht mehr manövrierfähig und hat Schlagseite. Eine Evakuierung ist nötig. Für einen solchen Fall gibt es genaue Pläne zum Ablauf einer solchen Aktion und gewisse Vorschriften, die eingehalten werden müssen. Doch erst nach ca. einer Stunde werden die Passagiere über den Vorfall informiert und dazu aufgefordert ihre Rettungswesten überzuziehen sowie an Deck zu kommen. Viele Passagiere erzählen später von einem chaotischen und ungeordneten Vorgehen der Crew bei dem Versuch, die Menschen von Bord zu bringen. („Costa Concordia“, 2021)
Abb. A.01.02: Havarierte Costa Concordia (© Claus-Christian Carbon)
Handelt es sich wie beim Fall der Costa Concordia um eine Interpolationsbarriere, müssen folgende Kriterien vorliegen: Sowohl der Ausgangs- sowie der erwünschte Endzustand als auch die Operatoren sind bekannt. In welcher Reihenfolge oder Kombination die nötigen Operationen jedoch durchgeführt werden müssen, um den Zielzustand tatsächlich zu erreichen ist unklar. Übertragen auf den Fall der Costa Concordia stellt sich die Situation folgendermaßen dar:
- Ausgangszustand: Das Schiff ist havariert, es befinden sich 4229 Menschen an Bord.
- Zielzustand: Alle Menschen möglichst schnell von Bord und in Sicherheit bringen.
- Operatoren: Menschen an Deck holen, Schwimmwesten anziehen lassen, Rettungsbote klarmachen und Menschen an Bord bringen, Menschen beruhigen, Hilfe anfordern, Schiff so lange wie möglich schwimmtauglich halten...
Obwohl eigentlich alle nötigen Mittel für eine erfolgreiche Evakuierung vorhanden waren, endet das Unglück mit 30 bestätigten Todesopfern. Probleme mit Interpolationsbarrieren sind also durchaus keine leicht lösbaren Probleme, auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick danach aussehen, weil alles klar zu sein scheint.
1.2.2 Synthesebarriere
Beispiel B.01.04: Streichhölzer
Die Abbildung stellt eine Anordnung von Streichhölzern dar, wie sie für viele Denksportaufgaben typisch ist. Die Instruktion lautet: Bilden Sie ein Quadrat, indem Sie ein Streichholz verändern.
Abb. A.01.03: Streichhölzer
Analyse:
- Ausgangszustand: bekannt
- Endzustand: bekannt (ein Quadrat bilden)
- Operatoren: ein Streichholz verschieben, allerdings nicht klar welches oder wohin (teilweise unbekannt)
Lösung:
Verschiebt man das rechte Streichholz um ein Stück nach rechts, so entsteht in der Mitte ein kleines Quadrat.
Abb. A.01.04: Lösung Streichhölzer
Bei Problemen mit einer Synthesebarriere sind Ausgangszustand und Zielzustand (Quadrat bilden) bekannt. Im vorliegenden Fall sind sogar die zulässigen Handlungen beschrieben (das Verschieben von höchstens einem Streichholz). Anders als bei einem Interpolationsproblem ist es hier nicht die spezifische Kombination der Mittel, die uns Schwierigkeiten bereitet. Nach ein paar Lösungsversuchen fragt man sich unwillkürlich: Kann es sein, dass ich das zielführende Mittel noch nicht kenne oder es aus irgendeinem Grund nicht in Betracht ziehe?
Dörner bezeichnet Probleme mit einer Synthesebarriere auch sehr treffend als „Alchemisten-Probleme“: Wie lässt sich Blei in Gold umwandeln? Anfangszustand (Blei) und Zielzustand (Gold) sind bekannt, allein die zielführenden Mittel sind es nicht. Die Barriere besteht darin, dass geeignete Mittel erst gefunden oder erfunden, d.h. neu gebildet (= synthetisiert) werden müssen.
Charakteristika von Synthesebarrieren:
- Anfangszustand ist bekannt
- Zielzustand ist bekannt
- Zielführende Mittel sind (teilweise) unbekannt
Nach Dörner (1976) ergeben sich die grundlegenden Problemtypen aus einer Betrachtung der Barrieren, die den Übergang eines Ausgangszustandes (Sα) in einen erwünschten Zielzustand (Sω) verhindern. Unabhängig von einem bestimmten Anwendungskontext spielt das Wissen über die verfügbaren Mittel und das Wissen über die angestrebten Ziele für das Problemlösen eine entscheidende Rolle.
Beispiel B.01.05: Rumpelstilzchen
Nun wollen wir kurz die Realität hinter uns lassen und in die Welt der Märchen eintauchen:
Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm: „Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.“ Der König sprach zum Müller: „Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt, wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloß, da will ich sie auf die Probe stellen.“
Als nun das Mädchen zu ihm gebracht ward, führte er es in eine Kammer, die ganz voll Stroh lag, gab ihr Rad und Haspel und sprach: „Jetzt mache dich an die Arbeit, und wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so mußt du sterben.“ Darauf schloß er die Kammer selbst zu und sie blieb allein darin. Da saß nun die arme Müllerstochter wußte um ihr Leben keinen Rat: sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, und ihre Angst ward immer größer, daß sie endlich zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Türe auf, und trat ein kleines Männlein herein und sprach: „Guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint Sie so sehr?“ (Gebrüder Grimm, 2016)
Der Rest ist Geschichte: Zu ihrem Glück gab es das Rumpelstilzchen, das die Kunst beherrschte, Stroh zu Gold zu spinnen und ihr ihre Aufgabe gegen Bezahlung abnahm. Mit seiner Hilfe wurde sie zur Königin und musste ihre angebliche „Gabe" danach, zum Glück nie wieder unter Beweis stellen, denn das Geheimnis, wie man aus Stroh Gold spinnt, hat das Rumpelstilzchen zu unserer aller Leidwesen mit ins Grab genommen.
Die arme Müllerstochter! Die Prahlerei ihres Vaters hatte sie in eine lebensbedrohliche Situation gebracht, denn sie hatte leider keine Ahnung, wie sie das Stroh zu Gold spinnen sollte. Sie stand vor einer Synthesebarriere. Wie bei der Interpolationsbarriere sind auch bei der Synthesebarriere Ausgangs- und Endzustand bekannt (Ich habe hier eine Kammer voll Stroh, das ich komplett zu Gold spinnen soll). Jedoch fehlt, im Gegensatz zur Interpolationsbarriere, das Wissen darüber, welche Operatoren zur Zielerreichung anzuwenden sind („…sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, …").
1.2.3 Dialektische Barriere
Nach Dörner (1976) ergeben sich die grundlegenden Problemtypen aus einer Betrachtung der Barrieren, die den Übergang eines Ausgangszustandes (Sα) in einen erwünschten Zielzustand (Sω) verhindern. Unabhängig von einem bestimmten Anwendungskontext spielt das Wissen über die verfügbaren Mittel und das Wissen über die angestrebten Ziele für das Problemlösen eine entscheidende Rolle.
Probleme, die einen bekannten Zielzustand aufweisen, sind im Alltag eher die Ausnahme. Die Mehrzahl unserer Probleme ist dadurch gekennzeichnet, dass wir keine (oder nur sehr vage) Kriterien für den Zielzustand angeben können, wir stehen also vor einer dialektischen Barriere. Viele dieser Probleme erleben wir als emotional belastend, weil sie uns ausweglos erscheinen: Ich weiß nicht, was ich tun soll, aber irgendwas muss sich ändern, denn so kann es nicht weitergehen!
Charakteristika von dialektischen Barrieren:
- Anfangszustand ist bekannt
- Zielzustand ist unbekannt
- Mittel sind (teilweise) unbekannt
Im Gegensatz zu den Barrieretypen Interpolationsbarriere und Synthesebarriere kennt man bei der dialektischen Barriere weder den Endzustand, noch die benötigten Operatoren (bzw. deren Passung und Reihenfolge). Man hat zwar z.B. beim Erstellen eines Referates (siehe Beispiel) ein Thema, über das man referieren soll, aber was man daraus zu machen hat und wie man dazu am besten vorgeht, ist in den seltensten Fällen genau vorgegeben. Außerdem kennt meistens (und auch das trifft nicht immer zu) nur die dozierende Person die genauen Kriterien für eine gute Arbeit.
Beispiel B.01.06: Erstelle ein Referat!
Jedes Semester aufs Neue ist es wieder soweit: ein oder mehrere Referate müssen erstellt werden. Gerade wenn man mit dem zugewiesenen Thema bisher noch nicht wirklich vertraut ist, ist es schwierig zu entscheiden, was relevant ist und was nicht.
Die Erstellung eines Referates beinhaltet häufig eine dialektische Barriere. Zwar hat man ein Thema, über das man ein Referat erstellen muss (Ausgangszustand), aber was man daraus machen soll, also der genaue Endzustand, ist unbekannt. Zudem ist in den seltensten Fällen vorgegeben, wie genau man am besten vorgeht, weshalb auch das zweite Kriterium einer dialektischen Barriere, die unbekannten Operatoren, erfüllt ist. Außerdem kennt meistens nur der Dozent die genauen Kriterien für ein, seiner Meinung nach gutes Referat. Es kommt zu diversen Fragen, beispielsweise: „Ich habe zwar ein Thema, aber was umfasst es eigentlich alles genau?“ „Gibt es dazu geeignete Literatur und wo bekomme ich diese her?“ „Wie muss das Referat am Ende sein, damit ich eine gute Note bekomme?“ Man erstellt Folien, löscht diese wieder, stellt Folien um, ändert Stichpunkte, sucht zusätzliche Quellen usw., bis der Tag der Präsentation des Referats gekommen ist.
Die Lösung zur Überwindung einer dialektischen Barriere ergibt sich also häufig erst während des Prozesses durch Ausprobieren. Man schreibt bei einer Hausarbeit, einem Essay oder, wie im Beispiel beschrieben, einem Referat etwas, überprüft, ob es einem gefällt, der Text sich sinnvoll anhört und zum Thema passt und führt gegebenenfalls Änderungen durch, falls es den angelegten Kriterien nicht genügt. Man nähert sich der Lösung in diesem Fall also meistens schrittweise an.
In diesem Prozess werden — daher der Name dialektisch — die gefundenen möglichen Zielzustände immer wieder auf innere Widersprüche (Widersprüche der Komponenten des Entwurfs zueinander) und äußere Widersprüche (Widersprüche des Entwurfs mit Sachverhalten außerhalb seiner selbst) überprüft.
1.2.4 Erweiterung des Konzepts: Die diagnostische Barriere
Nach Dörner (1976) ergeben sich die grundlegenden Problemtypen aus einer Betrachtung der Barrieren, die den Übergang eines Ausgangszustandes (Sα) in einen erwünschten Zielzustand (Sω) verhindern. Unabhängig von einem bestimmten Anwendungskontext spielt das Wissen über die verfügbaren Mittel und das Wissen über die angestrebten Ziele für das Problemlösen eine entscheidende Rolle. Der Ausgangszustand des Problems ist nach Dörners Klassifikation jedoch immer bekannt. So wie aber die meisten Alltagsprobleme nur vage Zielkriterien aufweisen (Dialektische Barriere), ist unserer Meinung nach auch der Anfangszustand eines Problems bei genauem Hinsehen meistens nicht wirklich oder nur scheinbar klar. Deshalb möchten wir Dörners Barrieren durch die diagnostische Barriere ergänzen.
Den Begriff diagnostisch haben wir gewählt, weil diese Art der Barriere häufig im medizinischen Bereich auftritt: man muss erst eine Diagnose stellen (welche Krankheit genau verursacht die bestehenden Symptome), damit man weiß, welche Mittel man anwenden muss, um das Problem (die Krankheit) dann tatsächlich lösen zu können.
Charakteristika von diagnostischen Barrieren:
- Anfangszustand ist unbekannt
- Zielzustand ist bekannt oder unbekannt
- Mittel sind (teilweise) unbekannt
Aber nicht nur wenn es um Krankheiten geht, treffen wir auf diagnostische Barrieren, wie folgendes Beispiel zeigt.
Beispiel B.01.07: Asthma bronchiale
Lukas (10 Jahre) leidet beim Sportunterricht in der Schule das erste Mal an Luftnot und wird von seiner Mutter abgeholt. Innerhalb der nächsten Tage klagt Lukas öfter über diffuse Symptome, wie z.B. Engegefühl in der Lunge, ein Pfeifen beim Ausatmen und dass er nicht mehr so viel rennen kann, wie die anderen Kinder. Daraufhin geht die Mutter mit ihm zu der Kinderärztin. Um das Problem behandeln zu können, muss erst eine Diagnose gestellt werden. Nach der Anamnese vermutet die Ärztin Asthma bronchiale, worauf hin sie Lukas einen Lungenfunktionstest machen lässt. Dieser zeigt deutlich eine chronische Entzündung der Bronchien, wodurch die Diagnose des Asthmas gestellt werden kann. Daraufhin bekommt Lukas die passenden Medikamente verschrieben.
Um das Problem behandeln zu können, muss der Ausgangszustand festgestellt werden, also die Diagnose gestellt werden. Durch die Anamnese und die Lungenfunktionsprüfung kann der Ausgangszustand bestimmt werden. Der Endzustand, also die Genesung von Lukas ist ebenfalls bekannt und es können die bis dahin unbekannten Operatoren zur Lösung des Problems herangezogen werden.
Das Beispiel müsste eigentlich aufgeteilt werden, da im Prinzip zwei Anforderungen gelöst werden müssen:
1.Es muss eine Diagnose gestellt werden!
2. Es müssen geeignete Behandlungsschritte gefunden und angewendet werden!
Die Ausgangssituation ist in beiden Fällen die gleiche, nämliche die Symptomatik von Lukas. Allerdings kann man zwei Endzustände definieren: 1. Die passende Diagnose zu finden und 2. die Genesung von Lukas. Im ersten Fall sind die Operatoren aus der Vielzahl der bekannten diagnostischen Möglichkeiten (z.B. Blutanalyse, Lungenfunktionsprüfung, EKG,) auszuwählen, im zweiten Fall müssen die richtigen Behandlungsschritte zur Heilung eingeleitet werden. Die Stellung einer Diagnose kann man also guten Gewissens als Problem bezeichnen, wohingegen die Heilung einer bekannten und gut behandelbaren Krankheit eher eine Aufgabe ist. Wäre die Krankheit nicht bekannt oder gäbe es keine definierten Behandlungsschritte, so wäre auch das als Problem zu bezeichnen.
1.3. Problemraum
Ein Problemraum „ist allg. durch den Anfangszustand, den Zielzustand (Ziele), alle prinzipiell möglichen Zwischenzustände, die ein Problemlöser im Problemlöseprozess (Problemlösen) erreichen kann, und Operatoren (Operator), die den Übergang zw. den versch. Zuständen (Instanzen) ermöglichen, gekennzeichnet (Rollett, 2008).“ (Rollett, 2019)
Nach Lüer und Spada (1990) bezeichnet der Begriff Problemraum das innere Abbild eines Problems, das „im Kopf" einer Person entsteht. Als mentales Modell umfasst es alle Elemente, die diese Person mit einem Problem gedanklich in Verbindung bringt. Der Begriff Problemraum trägt hier der Subjektivität von Problemen Rechnung. Eine Anforderung kann sich für verschiedene Personen – z.B. in Abhängigkeit von ihrem Vorwissen – sehr unterschiedlich darstellen.
Beispiel B.01.08: Kauf eines T-Shirts
Stellen Sie sich vor, Sie möchten in einem Kleidungsfachgeschäft ein T-Shirt kaufen. Sie kennen das Geschäft gut, da Sie regelmäßig dort einkaufen.
Da Sie bereits öfter in diesem Geschäft waren, haben Sie eine mentale Vorstellung davon. Mentale Vorstellung meint hier, dass Sie sich vorstellen können, wie es in dem Geschäft aussieht und wo genau im Geschäft Sie nach dem T-Shirt suchen müssen. Diese mentale Vorstellung stellt den Problemraum dar.
Der Problemraum bedingt nicht nur die wahrgenommene Schwierigkeit einer Anforderung, er begrenzt auch den Suchraum, also den Realitätsbereich, in dem nach einer Lösung gesucht wird (s. Buch. 2; Heuristiken der Suchraumerweiterung / Suchraumeinengung). Wie die subjektive Repräsentation einer Situation das Problemlöseverhalten beeinflusst, wird im Abschnitt Mentales Modell dargestellt.
Allerdings ist der Begriff nicht eindeutig definiert. In der Künstlichen Intelligenz (KI) existieren Verfahren zum automatischen Planen. In dieser Disziplin ist ein Problemraum die Menge aller möglichen Kombinationen von Zuständen und Operatoren des Systems. Diese Sichtweise ist hier sinnvoll: Der Problemraum ist dann der Bereich, in dem der Planungsalgorithmus maximal operieren kann. Durch Einschränkungen der verwendeten Programmiersprache und des Planungsalgorithmus, sowie durch die Verwendung von Heuristiken im Algorithmus, kann meist nur ein Teil dieses Problemraums wirklich erkundet werden. In unserem Kontext, wie auch in der KI, würde man dann vom Suchraum sprechen.
Die Definition von Rollett stellt eine sehr allgemeine und vergleichsweise unspezifische Definition dar. Aber auch die beiden anderen Sichtweisen – die subjektive von Lüer und Spada, sowie die Sicht der Informatiker:innen – haben jeweils Vor- und Nachteile. Die Definition von Lüer und Spada trägt der prinzipiellen Subjektivität jeder Interaktion mit einem komplexen System Rechnung, entspricht demnach der Innenperspektive des Handelnden. Die dritte Sichtweise (Informatik) eignet sich für die Sicht auf ein System, inklusive den darin aktiven Problemlösern. Bei der Betrachtung von außen ist es so möglich, den Unterschied zwischen Such- und Problemraum zu thematisieren: Sucht die agierende Person im ganzen System? Sucht sie nur in einem Teilbereich? Oder hat sie schon, ganz oder teilweise, das System verlassen und betreibt Horizontalflucht?
1.4. Operatoren
Ein Operator ist eine theoretische Handlungsoption, die in der gegebenen Situation besteht. So können Sie, um vom Bahnhof zur Uni zu gelangen, den Bus oder ein Taxi nehmen, Laufen, mit dem Rad fahren usw. Davon zu unterscheiden sind Operationen, unter denen die konkrete Ausführung von Operatoren zu verstehen sind.
Es lassen sich folgende Eigenschaften von Operatoren unterscheiden:
- Wirkungsbreite
- Wirkungssicherheit
- Anwendungsbereich
- Reversibilität
- materielle und zeitliche „Kosten“
1.4.1 Wirkungsbreite
Ein Operator hat eine größere Wirkungsbreite als ein anderer, wenn er – direkt oder indirekt - auf mehr Einflussgrößen der Situation verändernd einwirkt. Man kann also – in Anlehnung an eine medizinische Terminologie – von Breitband- und Schmalbandoperatoren reden.
Die Wirkungsbreite eines Operators ist nicht unabhängig von den Eigenschaften der Problemsituation zu sehen. Wie oben erwähnt, definieren die direkten und indirekten Auswirkungen die Wirkungsbreite eines Operators. Dadurch bedingt sich, dass in hoch vernetzten Situationen fast alle Operatoren die Qualität eines Breitbandoperators haben.
Breitbandoperatoren setzen also – direkt oder indirekt - an mehreren Einflussfaktoren an und bewirken dementsprechend „viel“. Allerdings sind sie dadurch auch schwieriger vorher zu planen und zu kontrollieren. Operatoren mit hoher Wirkungsbreite haben meist Neben- und Fernwirkungen, die eventuell nicht erwünscht sind.
Schmalbandoperatoren sind einfacher zu planen und besser zu kontrollieren, da sie nur an einzelnen oder wenigen Einflussfaktoren ansetzen. Sie bewirken dadurch aber meist auch weniger.
Beispiel B.01.09: Wirkungsbreite. Erkältungsmedikament
Die Einnahme eines kombinierten Erkältungsmedikamentes ist die Realisation eines Breitbandoperators. Ein Schnupfenspray hat dagegen weniger Wirkungsbreite.
Abb. A.01.05: Wirkungsbreite Erkältungsmittel
Breitbandoperator: Die Einnahme eines kombinierten Erkältungspräparates kann Müdigkeit und sogar Fahruntüchtigkeit mit sich bringen. Wollte die kranke Person sich durch die Einnahme der Medizin für den kommenden Arbeitstag „fit“ machen, so werden diese Nebenwirkungen nicht unbedingt erwünscht sein. Schmalbandoperator: Die Einnahme eines Schnupfensprays ist wahrscheinlich durch geringere Nebenwirkungen ausgezeichnet. Nur leider werden die anderen Auswirkungen einer Erkältung damit nicht gelindert.
Grundsätzlich gilt also, dass Breitbandoperatoren mehr bewirken, aber schwerer zu kalkulieren sind.
1.4.2 Wirkungssicherheit
Operatoren können mehr oder weniger wirkungssicher sein. Dies hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, mit der ein Operator eine bestimmte Situation in eine andere umwandeln kann. So dürften viele alltägliche Operationen eine hohe Wirkungssicherheit haben.
Leider haben viele Operatoren in komplexen Problemsituationen nicht diese hohe Wirksicherheit. Ob die Einnahme eines Medikamentes zu gewünschten Effekten führt, ist schon keineswegs mehr so sicher. Und ob die in einem Unternehmen eingeführte Erhöhung der Überstunden tatsächlich auch wie angedacht die Produktivität steigert, ist noch unsicherer. Generell gilt, dass die Wirkungssicherheit von Operatoren vor allem in vernetzten und intransparenten Situationen geringer ist. Dies bedingt, dass die Planung von Eingriffen hier breiter sein muss, da man sich nicht nur auf einen geplanten Effekt einstellen muss, sondern auf mehrere mögliche Optionen. Unsere unternehmerisch tätige Person muss damit rechnen, dass seine Maßnahme vielleicht eine Zunahme der Produktivität bewirkt, aber eben vielleicht auch eine Abnahme. Und er sollte auch auf beide Alternativen vorbereitet sein.
Beispiel B.01.10: Kaffeetasse
Dass man morgens mit einem Handgriff die Kaffeetasse ergreifen kann und sie nicht dabei vom Tisch auf den Boden befördert, dürfte – zumindest in den meisten Fällen – von Erfolg gekrönt sein.
Diese Handlung hat eine hohe Wirkungssicherheit, da man es die meiste Zeit schafft die Tasse sicher zu greifen, zum Mund zu führen und daraus zu trinken ohne unangenehme Konsequenzen fürchten zu müssen.
1.4.3 Anwendungsbereich
Ein Operator hat einen hohen Anwendungsbereich, wenn seine Realisation an wenige oder keine Bedingungen geknüpft ist. Im Gegensatz zur Wirkungsbreite geht es also hier nicht um die Auswirkungen des Operators, sondern um seine Voraussetzungen. Es ist für die problemlösende Person natürlich einfacher, wenn er Operatoren mit hohen Anwendungsbereichen hat, da sich diese fast immer anwenden lassen. Sind nur Operatoren mit geringem Anwendungsbereich vorhanden, so muss man sehr genau planen. Meist muss man erst die Bedingungen für die Anwendung schaffen, man muss Zwischenziele bilden.
Beispiel B.01.11: Anwendungsbereich „Erhöhung der Überstunden“
Aufgrund der kurzfristig angestiegenen Bestellungen überlegt die Unternehmensleitung die Kapazitäten durch die Erhöhung der Überstunden zu kompensieren. Um dies umsetzen zu können, muss 1. der Betriebsrat die Maßnahme billigen und 2. das Unternehmen über die nötigen Mittel zur Finanzierung der zusätzlichen Arbeitszeit verfügen.
Um den Bestellungen nachzukommen, wird der Operator „Erhöhung der Überstunden“ gewählt. Um diesen anwenden zu können, sind wiederum zwei Zwischenziele notwendig:
- die Schaffung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat
- ein Gespräch mit der Hausbank über einen kurzfristigen Kredit
Erst das Erreichen der beiden Zwischenziele schafft die Voraussetzung für die Anwendung des Operators „Erhöhung der Überstunden“!Ein Operator „Erhöhung der Überstunden“ hat einen höheren Anwendungsbereich als z.B. die Erhöhung von Lagerkapazitäten, da er an weniger Bedingungen gebunden ist. Es wird kein Bauunternehmen für die Errichtung einer Lagerhalle benötigt, es muss auch kein zusätzliches Personal eingestellt und eingearbeitet werden.
1.4.4 Reversibilität
Operatoren können mehr oder weniger irreversibel sein. Ein Operator hätte dann eine hohe Reversibilität, wenn man seine Effekte direkt oder indirekt wieder aufheben kann (und wenn dies ohne hohe zeitliche und materielle Kosten möglich ist).
Eine vollständige Reversibilität von Operatoren findet man heutzutage in Computerspielen und -simulationen. Wer hätte nicht schon vor einer riskanten Entscheidung das Spiel einfach gespeichert, um es nach einem Misserfolg wieder neu aufzurufen und eine andere Entscheidung zu treffen? Wenn in einer Problemsituation viele Operatoren mit hoher Reversibilität vorhanden sind, ist ein hohes Maß an spielerischem Probierverhalten möglich. Grundsätzlich sind Spiele oder spielerisches Training durch eine solche Situation gekennzeichnet. Man kann so tun, als ob, etwas ausprobieren, reines Versuchs-Irrtums-Verhalten an den Tag legen usw. Es ist keine langwierige Vorausplanung nötig, man muss sich nicht im Voraus auf eine geplante Strategie festlegen, da man sich ohne große materielle und zeitliche Kosten wieder in den ursprünglichen Ausgangszustand versetzen kann.
Wie man unschwer feststellen kann, sind solche Situationen fast nur in Planspielen und Simulationen anzutreffen. In den tatsächlichen komplexen Problemsituationen sind vollkommen reversible Operatoren eher unwahrscheinlich. Dagegen ist die Menge der vollständig irreversiblen Maßnahmen sehr groß. Welcher Operator im Beispiel einer unternehmerisch tätigen Person ist ohne materiellen und vor allem ohne zeitlichen Verlust vollständig wieder rückgängig zu machen? Wohl kaum einer!
Je höher die Irreversibilität der Operatoren in einer bestimmten Situation ist, desto stärker verbietet sich natürlich ein einfaches Austesten von Maßnahmen auf ihre Brauchbarkeit (etwa nach dem Motto „Das haben wir noch nicht ausprobiert!“).
Beispiel B.01.12: Reversibilität der Kapazitätssteigerung
Um den im Beispiel B.01.11 beschriebenen Anstieg an Bestellungen zu bewältigen, muss neben den Überstunden auch über eine Steigerung der Lagerkapazitäten nachgedacht werden. Da das bestehende Lager bereits voll ausgelastet ist, müsste ein neues Gebäude neben dem bestehenden gebaut werden.
Die „Erhöhung der Überstunden“ ist dabei ein Operator, der eine relativ hohe Reversibilität aufweist. Die Anordnung der Überstunden kann wieder zurückgenommen und die angefallenen Stunden abgefeiert werden. Dadurch entsteht für das Unternehmen nur ein geringer finanzieller Aufwand und danach befindet es sich vermutlich in einen sehr ähnlichen Zustand wie vor dem Einsatz des Operators. Dahingegen ist die „Erhöhung der Lagerkapazität“ ein Operator, der eine sehr geringe Reversibilität aufweist. Durch den Neubau eines Lagers fallen auch in Zukunft Kosten für Instandhaltung des Gebäudes und für Energie (Licht, Heizung) an, auch wenn es nicht genutzt wird. Zudem müssen die Kosten für den Neubau noch länger getragen und unter Umständen ein Kredit abgezahlt werden, dessen Tilgung auch wieder erst erwirtschaftet werden muss.
1.4.5 Materielle und zeitliche „Kosten“
Jede angewandte Operation kostet einen bestimmten Aufwand. Sie verbraucht Ressourcen und Zeit. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass diese beiden Kostenfaktoren oft gerade gegenläufig sind. In vielen Fällen sind die Operatoren, die nach relativ kurzer Zeit den erwarteten und gewünschten Effekt bewirken, auch die ressourcenaufwendigsten Alternativen. Auf der anderen Seite können auch „billige“ Operatoren zum gewünschten Erfolg führen, allerdings meist mit einer bestimmten zeitlichen Verzögerung. Hier ist also eine Kosten-Nutzen-Kalkulation für die einzelnen Operatoren nötig, die allerdings die Gegebenheiten der jeweiligen Problemstellung in Rechnung stellen sollte. Haben wir es mit einer Situation zu tun, die durch eine hohe Eigendynamik gekennzeichnet ist und damit durch Zeitdruck, muss diese Kalkulation in einer anderen Weise geschehen, als wenn dies nicht der Fall ist.
Beispiel B.01.13: Ressource vs. Zeit: Frühbucherrabatt bei der Bahn
Sie wollen innerhalb der nächsten Wochen (von Bamberg) nach Berlin fahren. Sie entscheiden sich, der Umwelt zuliebe, mit der Bahn zu fahren und müssen nun überlegen, wann sie fahren. Eine kurze Internetrecherche ergab unter anderem folgende Optionen (bei heutiger Buchung):
- Sie fahren gleich am nächsten Tag um 6:22 Uhr los, sind um 9:30 in Berlin und bezahlen dafür 69,90 EUR.
- Sie fahren erst in zwei Monaten (gleicher Wochentag, gleiche Abfahrts- und Ankunftszeit) und zahlen nur 27,90 EUR.
Hier sieht man deutlich, dass einzig der Zeitpunkt, an welchem Sie fahren in Relation zum Buchungstag einen Unterschied im Ressourceneinsatz (Geld) von ca. 60% ausmachen kann. Denn alle anderen Faktoren, wie z.B. Start-/Endpunkt, Uhrzeiten für Abfahrt und Ankunft, gefahrene Strecke, und sogar der eingesetzte ICE sind identisch. Allerdings geht diese Einsparung an der Ressource „Geld“ auf Kosten der Ressource „Flexibilität“ bzw. „Buchungszeitpunkt“, da sie sich bereits auf einen Reisezeitpunkt in zwei Monaten festlegen müssen.
1.5. Selbst-/Lernkontrolle & Transfersicherung
2. Literatur
•Costa Concordia. (05.10.2021). In Wikipedia. https://de.wikipedia.org/w/index.php? title=Costa_Concordia&oldid=214089923
•Dörner, D. (1976). Problemlösen als Informationsverarbeitung (1. Aufl.). Kohlhammer.
•Dudenredaktion. (o. D.). Problem. In Duden online. https://www.duden.de/rechtschreibung/Problem
•Duncker, K. (1935). Zur Psychologie des produktiven Denkens. Springer.
•Funke, J. (2003). Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer
•Gebrüder Grimm. (2016). Rumpelstilzchen. Re-Image Publishing. https://amazon.de/dp/B01LZB743I
•Ghallab, M., Nau, D. & Traverso, P. (2004). Automated Planning. Theory and Practice. San Francisco: Morgan Kaufmann
•Howard, R. (Regie). (1995). Apollo 13 [Film]. UIP/Universal.
•Klix, F. (1971). Information und Verhalten. Kybernetische Aspekte der organismischen Informationsverarbeitung (1. Aufl.). Hans Huber.
•Lüer, G., & Spada, H. (1990). Denken und Problemlösen. In H. Spada (Hrsg.), Lehrbuch Allgemeine Psychologie (S. 189-280). Hans Huber.
•Rollet, W. (2019). Problemraum. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch Lexikon der Psychologie. Hogrefe. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/problemraum
•Tobinski, D. A. (2017). Kognitive Psychologie. Problemlösen, Komplexität und Gedächtnis. Springer.