Einführung: Was ist Realistisches Erzählen? (Buch)

Was ist Realistisches Erzählen?

Zum Verstehensprozess

An dieser Stelle soll noch einmal kurz auf die Wirkung realistisch erzählter Literatur eingegangen werden. Nun, da geklärt ist, was metonymische Verfahren und kulturelle Codes sind, bleibt die Frage: Welche Wirkung wird durch metonymische und somit realistische Erzählverfahren erzielt?

Wir haben schon festgestellt, dass realistische Literatur leicht zu verstehen und somit bequem zu lesen ist. Doch wie genau kommt dieser vereinfachte Lese- bzw. Verstehensprozess zustande? An dieser Stelle soll uns die Literaturtheorie der Hermeneutik helfen. Hier finden Sie zwei Artikel zum hermeneutischen Zirkel, einen Lexikonartikel und eine methodologische Darstellung. [Im eigentlichen Kurs finden Sie an dieser Stelle die Textausschnitte als Scans verlinkt. In der Demo-Version ist dies aus urheberrechtlichen Gründen nicht möglich.]

Im Sinne einer Zirkelbewegung (daher der Begriff: Hermeneutischer Zirkel) wird immer wieder das Textverständnis mit dem Vorverständis abgeglichen. Bei realistisch erzählten Texten funktioniert das einwandfrei, da die Frames und kulturellen Codes stimmig sind und sich nicht widersprechen. Die Zirkelbewegung kann ungestört verlaufen, es kommt zu keinem Bruch im Verständnis: 

Realistische Lektüren sind hermeneutische und damit tendenziell gläubige Lektüren, Lektüren, die um ein Sinnzentrum kreisen; und wir glauben dem realistischen Narrativ so gern, weil es uns erzählt, was wir ohnehin schon wissen [...]. (Baßler 2013b, 43)

Im Gegensatz dazu schafft nicht-realistisch erzählte Literatur für das Verständnis erhebliche Widerstände. Auch hier versuchen wir in unserer Lektüre zunächst, die Textbefunde in einen konsistenten Frame zu zwingen; wir wollen eine Diegese aufbauen, eine Erzählwelt konstruieren, doch will dies nicht auf Anhieb gelingen. Der nicht-realistische Text versteht sich nicht von selbst, „der erste Leseeindruck ist vielmehr Unverständlichkeit, zumindest reagieren wir mit einem qualifizierten ‚Hä??‘“ (Baßler 2015, 23). Hier ist der hermeneutische Zirkel blockiert, der Verstehensvorgang zwischen Text- und Bedeutungsebene ist vielleicht nicht ausgesetzt, aber zumindest entautomatisiert, das Lesen ist weder verständlich noch bequem. 

Das Besondere an einem realistischen Text ist also: wir haben eine (kulturell codierte) Vorstellung von etwas und der realistische Text bestätigt diese, indem ihm dieselben Vorstellungen zugrunde liegen. Es gibt kein „qualifiziertes Hä??‘“, sondern höchstens ein bestätigendes Aha!!'. In einer unheimlich gewordenen Welt ohne verlässliches Sinnzentrum stützt sich der realistische Text auf verlässliche Strukturen und ermöglicht dadurch eine bequeme und leicht verständliche Lektüre (vgl. Baßler 2013b, 41). Man liest. Und versteht.

Was ist die Diegese?

Falls Ihnen der Begriff der Diegese nicht geläufig ist, hier eine kurze Definition: In der ursprünglichen Definition nach Gérard Genette ist die Diegese das Universum, in dem die Geschichte spielt (vgl. Genette 2010, 183). In erzähltheoretischer Verwendung bedeutet Diegese schlicht „die in einem Text dargestellte Welt“ oder auch die erzählte Welt‘ (Weimar 2007, 360). Die erzählte Welt oder Diegese ist der „Inbegriff der Sachverhalte, die von einem narrativen Text als existent behauptet oder impliziert werden.“ (Martínez / Scheffel 2019, 225). Diese erzähltheoretische Bedeutung des Begriffs Diegese liegt unserem Kurs zugrunde.