Einführung: Was ist Realistisches Erzählen? (Buch)
Zur Unterscheidung: Nicht-Realistisches Erzählen
Nach allem, was wir bisher als Realismus und Realistisches Erzählen definiert haben, machen wir die Gegenprobe: Was ist Nicht-Realistisches Erzählen?
Der erste Gedanke ist möglicherweise: natürlich etwas Fantastisches! Eine Hexe, ein Geist, ein Außerirdischer – das ist doch unrealistisch in einem Roman. Doch genau dies ist nicht Nicht-Realistisches Erzählen; denn wir haben bereits festgestellt, dass Realismus ganz klar von Realistik zu trennen ist. Im Sinne der Realistik wäre eine Hexe oder ein Außerirdischer in der Tat unrealistisch – nicht jedoch im Sinne des Realismus.
Da Realismus auf kulturellem Wissen basiert, kann auch fantastische Literatur sehr realistisch sein. Schließlich haben wir alle einen kulturellen Frame, d.h. Vorwissen, zu Begriffen wie beispielsweise ‚Hexe‘, ‚Geist‘ oder ‚Außerirdischer‘. Wenn in einem Text von einer Hexe die Rede ist, denken wir möglicherweise sofort an eine alte Frau mit großer Nase, ein Hexenhäuschen, einen fliegenden Besen, einen Zauberstab und Ähnliches. Die Begriffe sind uns nicht fremd, unser Gehirn kann diese sofort verarbeiten, sie stehen einer realistischen Erzählweise nicht im Wege.
Das bringt uns zurück zur Frage nach dem Gegenteil von Realistischem Erzählen. Die Antwort kann lauten: Ein Text, der mit unseren kulturellen Frames bricht, der sie verunsichert; ein Text, der seine eigene Künstlichkeit jederzeit ausstellt und im Extremfall nahezu unverständlich ist. Realistisch erzählte Literatur greift auf bekannte kulturelle Codes zurück, nicht-realistische Literatur macht genau das Gegenteil, indem sie den Rückgriff auf kulturell unbekannte Codes fordert (vgl. Baßler 2013b, 28 und 36).
Dementsprechend ist das Gegenteil des realistisch erzählten Textes nicht der fantastische Text, sondern der Text, der mit unseren kulturellen Frames und Skripten bricht, sie verunsichert – ein tendenziell metaphorisches Verfahren, das seine eigene Künstlichkeit jederzeit ausstellt und im Extremfall zu Texten an der Grenze zur Unverständlichkeit führt (vgl. Baßler 2013b, 28).