Einführung: Was ist Realistisches Erzählen? (Buch)
Was ist Realistisches Erzählen?
Kulturelles Vorwissen und das kulturelle Archiv
Moritz Baßler führt als prominentes Beispiel für eine realistische Erzählweise Frank Schätzings Science-Fiction-Thriller Der Schwarm (2004) an. Anhand eines kurzen Textausschnitts erläutert er, wie Leerstellen im Text durch kulturelles Vorwissen aufgefüllt werden; genau dieser Vorgang macht realistische Erzählweisen aus. Der Begriff ‚Frame', der von Baßler verwendet wird, ist ein Begriff der Kognitionswissenschaft und bezeichnet ein bestimmtes kulturell erlerntes Wissen, das wir in einer gewissen Situation ganz automatisch abrufen:
„Lars Jörensen stand auf der obersten Plattform des stählernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt führte, und sah auf den Bohrturm.“ Die meisten von uns waren vermutlich noch nie auf einer Bohrinsel, dennoch verfügen wir über einen entsprechenden Frame und können uns mit dessen Hilfe zumindest vage den Ort vorstellen, wo Lars Jörensen hier steht. Wir verbinden damit bestimmte Situationen, Geräusche, Gefühle, klimatische Bedingungen etc. Wir können uns eine Film-Szene dazu vorstellen. Der skandinavische Name ruft darüber hinaus einen bestimmten Phänotyp auf, wir stellen uns hier keinen Asiaten vor, und ganz selbstverständlich nehmen wir an, dass Lars genau einen Mund und zwei Ohren hat, männlichen Geschlechts ist, deshalb keine Kinder gebären kann usw. Frank Schätzings Text funktioniert nun so, dass er diese Annahmen nicht unterläuft, sondern mit ihnen rechnet und sie mit mühelosem Nachvollzug des Erzählten belohnt. Unsere kulturellen Frames reichen dazu aus, und seien sie, wie im Falle der Bohrinsel, noch so vage – wo wir mehr wissen müssen, liefert der Roman die Information nach. Schätzings Buch ist erheblich dicker als der „Ulysses“, und doch lässt er sich in wenigen Tagen lesen. Das ist hier mit Realismus gemeint. (Baßler 2011, 92)
Was sind Frames?
Das kulturelle Vorwissen, sog. Frames, ist ganz individuell, d. h. jeder von uns hat vermutlich eine etwas andere Vorstellung davon, was wir mit dem Begriff ‚Bohrinsel‘ verbinden, doch im Grunde sind unsere Vorstellungen ähnlich. Solche Frames existieren zu verschiedensten Themen, Begriffen, Vorgängen etc. und werden in entsprechenden Situationen ganz automatisch abgerufen.
Was sind Skripte?
Skripte sind eine besondere Form von Frames, in denen größere Zusammenhänge kulturell vorgeformt sind. Es handelt sich in der Regel nicht um einzelne Begriffe, die kulturell vorcodiert sind, sondern um Handlungsabläufe, die unser Gehirn automatisch rekonstruiert.
Ein Beispiel für ein Skript ist der Ablauf eines Abendessens in einem edlen Restaurant. Auch ohne genauere Beschreibungen erwarten wir etwa, dass Vorspeise, Hauptgang und Dessert in dieser Reihenfolge serviert werden und zu den Speisen verschiedene Weine gereicht werden. Steht in einem Text der Satz: „Sie genossen das Abendessen im 5-Sterne-Restaurant“, rekonstruieren wir als Leser und Leserinnen den Ablauf des Abends ganz automatisch.
Was ist das kulturelle Archiv?
Das kulturelle Archiv ist die „Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat“ (Baßler 2007, 66). Das kulturelle Vorwissen speist sich also einerseits aus dem kulturellen Archiv, andererseits wird es auch in ihm gespeichert und ist darin nachlesbar.