Einstieg in komplexes Problemlösen in Gruppen
3. Führung
3.6. Charisma-Theorien
Nachdem in der Forschung zu Führungstheorien zunächst über Jahrzehnte hinweg situative Komponenten eine stärkere oder sogar beherrschende Rolle spielten, kann man in den letzten Jahren in der psychologischen Forschung im Allgemeinen und in der Forschung zur Führungstheorie im Besonderen eine Renaissance des Konstruktes „Persönlichkeit“ feststellen.
Während allerdings die „älteren“ Eigenschaftstheorien auf der Suche nach einzelnen Eigenschaften waren, die für alle Situationen Geltung hatten und die als mehr oder minder unveränderlich angesehen wurden, fokussieren neuere Eigenschaftsansätze auf Prädiktoren für Verhaltensaggregate.
Die Theorienschule der (Neo-) Charismatischen Führung baut unter anderem auf den Theorien der Transformationalen Führung und der Visionären Führung auf. House und Shamir (1995) fassen umfangreiche empirische Arbeiten zur besonderen Qualität von Verhaltensweisen charismatischer Führer in 16 Punkten zusammen, die folgende Kernsätze enthalten:
Charismatische Führer entwickeln und fördern die Entstehung von Visionen, die Grundwerte verkörpern, die von Führern und ihren Mitstreiter:innen geteilt werden. Diesen Visionen sind sie ergeben und von deren moralischen Notwendigkeit und Richtigkeit überzeugt. Diese Visionen leben sie ihren Untergebenen auch demonstrativ vor. Charismatische Führer:innen zeigen eine hohe moralische Integrität gegenüber ihrem Gefolge.
- Charismatische Führer:innen haben ein hohes Selbstvertrauen, stärkere Entschlossenheit und Ausdauer und sie verfügen über eine hohe Risikobereitschaft. Sie „kultivieren bewusst und bedächtig ein positives Image ihrer selbst“.
- Charismatische Führer:innen wecken wahlweise das Gesellungs-, Macht- und Leistungsmotiv bei ihren Anhängern. Dabei haben sie diesen gegenüber hohe Erwartungen, aber auch hohes Vertrauen. Sie beurteilen ihre Geführten positiv, sind stolz auf sie und interessiert an deren positiver Entwicklung.
- Charismatische Führer:innen sind große Kommunikatoren, die nach außen als Sprachrohr der Gemeinschaft dienen. Nach „innen“ bemühen sie sich, „Attitüden, Werte und Perspektiven der Geführten ihren eigenen anzugleichen“. Sie zeigen außergewöhnliches und innovatives Verhalten, transportieren Botschaften anregend, einfallsreich und mit starker emotionaler Tönung.
Eine gewisse augenscheinliche Validität ist dieser Aufzählung natürlich abzugewinnen. Jeder kennt aus Politik, Geschichte oder Wirtschaft wenigstens eine solche „charismatische“ Führungspersönlichkeit. Die Einwände gegen die transformationale Führungstheorie lassen sich auch auf diesen Ansatz ausweiten bzw. übertragen. Eine umfassende Kritik der charismatischen Führungstheorie findet sich bei Weibler (2012, S. 382).
Fazit
Der Begriff der Führung ist also noch nicht wirklich geklärt und definiert. Gemeinsam ist den meisten Definitionen, dass es sich um intendierte Verhaltensbeeinflussung in der Richtung eines Zieles handelt. Vielleicht reicht es zunächst eine Arbeitsdefinition in den Raum zu stellen: Führung ist jemanden zu etwas bringen, das er selbst nicht oder so nicht getan hätte:
- weil er nicht die nötigen Informationen/ das nötige Wissen hat und/oder
- weil er nicht die nötige Motivation besitzt
Die fehlenden Informationen lassen sich noch spezifischer aufgliedern:
- fehlendes Fachwissen
- fehlendes Wissen über Kompetenzen
- fehlendes Wissen über Pläne
- fehlende Wissen über Optionen
Bei den Motivationsdefiziten lassen sich unterscheiden:
- fehlende Motivation
- ungenügende Motivation
Zwei Beispiele für Führungshandeln
Gut dokumentierte Beispiele für Führungshandeln stammen meistens aus der Militärgeschichte. Im Folgenden zwei Beispiele für sehr unterschiedliches Führungshandeln.
Beispiel B.02.13: Fredenhall am Kesserine-Pass
Generalmayor Lloyd Fredenhall kommandierte ein US-Korps 1943 in Nordafrika. Im Vorfeld der Schlacht um den Kasserine-Pass in Tunesien – dem letzten Sieg des deutschen Afrika – Korps – ist folgende Passage dokumentiert: „Am 13. Februar, dem Tag vor dem deutschen Angriff, besuchte Eisenhower seinen Korpskommandeur. Er war entsetzt, als er feststellen musste, dass Fredenhall seinen Befehlsstand in einer abgelegenen Schlucht 110 Kilometer hinter der Front nicht ein einziges Mal verlassen hatte. [...] Zu seinen vorderen Einheiten hatte er nur telefonischen Kontakt; die gesamte Aufstellung der Truppen hatte er mit Hilfe von Karten großen Maßstabs vorgenommen, die auf dem Boden seines Hauptquartiers ausgebreitet waren.“ Als die Schlacht in vollem Gange war, gab Fredenhall häufig völlig unverständliche Befehle: „Verlegen Sie Ihr Kommando, das heißt, die Fußgänger, die Knallbüchsen, Bakers Haufen und den Haufen, der das Gegenteil von Bakers Haufen ist, und den großen Knaben sobald wie möglich nach M. Es ist genau nördlich von da wo Sie sich jetzt befinden. Ihr Chef soll sich bei dem französischen Gentleman melden, dessen Name mit J beginnt und zwar an einem Ort namens D, der sich fünf Planquadrate links von M befindet.“
(David, 2002)
In diesem Befehl ist nichts von dem zu finden, was nach obiger Definition „Führung“ ausmacht. Es werden keine oder nur lückenhafte Informationen gegeben (Warum Fredenhall wichtige Worte durch Anfangsbuchstaben abkürzte, ist nicht geklärt.), es wird kein Plan erläutert und es werden keine möglichen Optionen dargestellt. Von einer motivierenden Wirkung einer solchen Anweisung ist auch nicht auszugehen.
Beispiel B.02.14: Grant bei Shiloh
Etwas anders stellt sich das Führungsverhalten von General Ulysses S. Grant 1862 in der Schlacht von Shiloh im amerikanischen Bürgerkrieg dar. Die konföderierten Truppen hatten Grant überraschend angegriffen. Viele seiner Truppen waren bereits in wilder Flucht, als er im Sattel sitzend eine Nachricht an einen untergebenen Truppenführer schrieb, der Verstärkungen heranbringen sollte: „Der Angriff auf meine Streitkräfte wird seit dem Morgen sehr energisch geführt. Das Eintreffen frischer Truppen auf dem Feld hätte beträchtliche Wirkung, weil es zum einen unsere Männer beflügelte, zum anderen den Feind entmutigen würde. Wenn Sie unter Zurücklassung Ihres Trosses am Ostufer des Flusses das Feld erreichen können, wird dieser Schritt uns zum Vorteil gereichen und uns möglicherweise den Sieg einbringen. Die Größe der Rebellenstreitmacht wird auf über 100.000 Mann geschätzt. Mein Hauptquartier liegt in einem Blockhaus auf dem Hügel, dort erwartet Sie ein Stabsoffizier, der Sie zu Ihrem Platz auf dem Feld führen wird.“
Im Gegensatz zu Fredenhall gibt Grant hier sehr genaue Informationen, er präsentiert einen genauen Plan, wie der Truppenführer zu seiner Stellung kommen kann, er schlägt als Option die Zurücklassung des Trosses vor und versucht zu motivieren, indem er dem Eintreffen frischer Truppen beträchtliche Wirkung zuschreibt.